Haiku, Senryu

geschrieben von Ernst Ferstl (17.08.2002)


Das Haiku ist die kürzeste und eine der ältesten Gedichtformen der Literatur. Es besteht aus einer einzigen Strophe mit drei Zeilen mit insgesamt 17 Silben. Die erste Zeile besteht aus 5 Silben, die zweite aus 7, die dritte aus 5 Silben. Die ältesten Haiku stammen aus Japan und sind mehr als 1200 Jahre alt. Ursprünglichlich hatte diese Gedichtform einen starken Naturbezug. Ohne Naturbezug ( alles kann zu einem Haiku werden ) heißen diese Gedichte Senryu.

Das 17-Silben-Gedicht übt auf mich eine fast magische Faszination aus. Ich möchte das mit einigen Bemerkungen und Beispielen aus meinen Haiku-Büchern näher ausführen.

Ein Haiku sollte durch seine Einfachheit und Bildhaftigkeit "bestechen":


Eiskalt ist die Nacht.
Ein barmherziger Wind stellt
Blumen ins Fenster.

Der Nachthimmel spielt
eine Lichtersinfonie.
Die Gräser tanzen.


Ein Haiku ist wie ein Blitzlicht, das uns sogar ein Bild aus der Dunkelheit ermöglicht; wie ein Punkt, in dem sich Zeitloses mit der Zeit schneidet, kurz gesagt: ein Augenblick Ewigkeit.

Die Ewigkeit sitzt
am Ufer des Augenblicks.
Die Zeit schlägt Brücken.

Gewitterstimmung:
Blitze und Donner fallen
aus allen Wolken.


Ein Haiku überwindet scheinbare Widersprüche, versöhnt Gegensätze, offenbart das Innere der Dinge. Die Offenheit der Sinne führt zum Staunen, zur Ehrfurcht. Das Alltägliche und Kleine wird wichtig und liebenswürdig.

Die Schatten folgen
der Sonne auf Schritt und Tritt.
Frage und Antwort.

Die Sonne geht auf.
Ein Regenguss klatscht Beifall
mit nassen Händen.

Ein vergnügter Wind
spielt mit tausenden Ästen
sein Harfenkonzert.


Ein Haiku ist wie ein Kuss statt ein langen Liebeserklärung, er lässt Freiraum für Andeutungen, für Herz und Hirn, für das Einbinden in die persönliche Gedanken- und Gefühlswelt, für Fantasie und eine neue Sicht der Wirklichkeit, des Lebens, der Schöpfung.

Wenn ich versuche, in diesem Sinne meine Eindrücke auszudrücken, kommen meine Senryu sehr oft in die Nähe von 17-silbigen Aphorismen.


Gefühle blühen.
Es könnte Frühling werden
mitten im Winter.


Im Chor des Lebens
gibt die Liebe den Ton an.
Wo sind die Sänger.


Die Erde beginnt
zu tanzen, wenn man sie mit
Himmelsaugen sieht.


Den Gewohnheiten
einen üblen Streich spielen:
Neues entdecken.


Bergauf und bergab.
Das Wesen des Lebens ist
die Veränderung.


Ein Tropfen Liebe
bringt das Gleichgültigkeitsmeer
zum Überlaufen.


Alle zitierten Haiku/Senryu stammen aus meinen Büchern "Am Ufer des Augenblick", "Gräser tanzen", "Ein Augenblick Ewigkeit".