Erzählformen (in Lyrik und Prosa)

geschrieben von Thomas Rackwitz (08.09.2002)


Ballade

Die Ballade schildert das Schicksal eines Menschen an einem entscheidenden, meist tragischen Wendepunkt. Dabei ist die Art der Darbietung teils erzählend, teils dialogisierend. Sie entsteht aus einer - häufig düsteren - Stimmung und ist meist strophisch gegliedert. Die Ballade ist also gattungsmäßig eine Mischform; deshalb bezeichnete Goethe diese, als Ur-Ei der Poesie (weil hier die Elemente noch nicht getrennt sind, sondern in einem lebendigen Ur-Ei zusammen sind).

Man unterscheidet Volksballade und Kunstballade, Volksballaden sind kurze strophische Erzähllieder, eine Weiterbildung germanischer Heldenlieder und drehen sich oft um historische oder sagenhafte Personen. Aber nicht das Heldenhafte interessiert, sondern das Menschliche, das Rührende. Typische Motive sind: der Abschied, das Wiedersehen, der Tod des Geliebten, Treue und Untreue, Verbrechen und Rache; formale Kennzeichen: sprunghafte verkürzende Erzählweise, oft Dialogform, formalhafte Gebärden, ständige Wiederholungen, Typisierung des Menschen.

Die Verfasser sind einzelne, nicht ein Kollektiv; aber das Volk hat die Lieder mündlich weitergegeben, und sein Geschmack bestimmte die Auswahl der Symbole, Bilder und Motive. Die mündliche Art der Überlieferung führte zu Veränderungen, dem Zersingen, und zu vielen Variationen eines Themas. Die Volksballade erhielt neue Impulse durch das Zeitungslied (15./16.Jh.). Dieses wurde von Sängern öffentlich vorgetragen und anschließend als Flugblatt verkauft. Es berichtete, den Wünschen des Publikums entsprechend, über Verbrechen, Unglücksfälle, über alles, was Gruseln machte und rührte, und zwar mit genauer Angabe von Ort, Zeit und Personen. Als die regelmäßige Zeitung auf den Markt kam, übernahm sie die Verbreitung der tatsächlichen Geschehnisse; dem Zeitungslied blieb das verstärkte Herausarbeiten der Sensation. Das Ereignis (die MORITAT) wurde von einem Bänkelsänger vorgetragen; dabei wies er mit einem Zeigestock auf großflächige Illustrationen zu seinem Text. Das Bänkellied endete mit einer "Moral von der Geschicht".

Die Kunstballade verdankt ihre Entstehung Percys "Reliques of Ancient Poetry" (1765). Durch diese angeregt, schrieb Hölty "Adelstan und Röschen" (1771), die erste deutsche Kunstballade. Trotzdem gilt Gottfried August Bürger mit seinem Werk "Lenore" aus dem Jahr 1773 als ihr Begründer, denn er entfaltete die neue Form in ihrer ganzen Breite. Ihre Merkmale sind leidenschaftliche Bewegtheit, Anschaulichkeit, Hineinspielen des Irrationalen, Schaurigen, Überwiegen des Tragischen.

So wird die Kunstballade zu einer Form, die für den Sturm und Drang charakteristisch ist. Herder überträgt englische Ballade und nimmt sie in seine Volksliedersammlung auf. Auch Goethes frühe Balladen wurzeln hier, sie verstärken das Lyrische("Das Veilchen", "Der König von Thule") oder die naturmagische Grundtendenz der Ballade. ("Erlkönig", "Der Fischer")

1797, im "Balladenjahr" verfassten Goethe und Schiller in gemeinsamem Impuls Balladen, die als Ideenballaden gelten. An erdachten, märchen- oder sagenhaften Situationen stellt Goethe, an historisch orientierten Situationen Schiller eine moralische Idee dar ("Der Schatzgräber", "Der Zauberlehrling", "Der Taucher", "Der Ring des Polykrates" - beiden letzteren von Schiller). Im Laufe der weiteren Entwicklung der Kunstballade kann man zwei Hauptstränge erkennen: 1. die Geheimnisballade, welche die irrationalen Hintergründe des Schicksals aufreißt, und 2. die Heldenballade, die von heldenhafter Bewährung erzählt. Es gibt aber eine Fülle von Zwischenformen, die sich einer systematischen Ordnung entziehen. Heute wählt man die Bezeichnung "Erzählgedicht" für Texte, die in der Nähe der Ballade stehen.

z.B. Der Handschuh

Vor seinem Löwengarten,
Das Kampfspiel zu erwarten,
Saß König Franz,
Und um ihn die Großen der Krone,
Und rings auf hohem Balkone
Die Damen in schönem Kranz.

Und wie er winkt mit dem Finger,
Auftut sich der weite Zwinger,
Und hinein mit bedächtigem Schritt
Ein Löwe tritt
Und sieht sich stumm
Rings um,
Mit langem Gähnen,
Und schüttelt die Mähnen
Und streckt die Glieder
Und legt sich nieder.

Und der König winkt wieder,
Da öffnet sich behend
Ein zweites Tor,
Daraus rennt
Mit wildem Sprung
Ein Tiger hervor.
Wie der den Löwen erschaut,
Brüllt er laut,
Schlägt mit dem Schweif
Einen furchtbaren Reif
Und recket die Zunge,
Und im Kreise scheu
Umgeht er den Leu
Grimmig schnurrend,
Drauf streckt er sich murrend
Zur Seite nieder.

Und der König winkt wieder,
Da speit das doppelt geöffnete Haus
Zwei Leoparden auf einmal aus,
Die stürzen mit mutiger Kampfbegier
Auf das Tigertier;
Das packt sie mit seinen grimmigen Tatzen,
Und der Leu mit Gebrüll
Richtet sich auf - da wirds still,
Und herum im Kreis,
Von Mordsucht heiß,
Lagern sich die greulichen Katzen.

Da fällt von des Altans Rand
Ein Handschuh von schöner Hand
Zwischen den Tiger und den Leun
Mitten hinein.
Und zu Ritter Delorges spottender Weis
Wendet sich Fräulein Kunigund:
»Herr Ritter, ist Eure Lieb so heiß,
Wie Ihr mirs schwört zu jeder Stund,
Ei so hebt mir den Handschuh auf.«

Und der Ritter in schnellem Lauf
Steigt hinab in den furchtbaren Zwinger
Mit festem Schritte,
Und aus der Ungeheuer Mitte
Nimmt er den Handschuh mit keckem Finger.

Und mit Erstaunen und mit Grauen
Sehens die Ritter und Edelfrauen,
Und gelassen bringt er den Handschuh zurück.
Da schallt ihm sein Lob aus jedem Munde,
Aber mit zärtlichem Liebesblick -
Er verheißt ihm sein nahes Glück -
Empfängt ihn Fräulein Kunigunde.
Und er wirft ihr den Handschuh ins Gesicht:
»Den Dank, Dame, begehr ich nicht!«
Und verläßt sie zur selben Stunde.

Friedrich von Schiller


Die Moritat

(wohl durch zerdehnendes Singen des Wortes "Mordtat" [etwa: Mo-red-at] entstanden): Bezeichnung für Lied- oder Prosatext des Bänkelsangs, insbesondere für parodistisch übertreibende Lieder. Der Schluss des Liedes enthält eine belehrende Moral.

z.B. "Die Moritat von Mackie Messer"

Und der Haifisch, der hat Zähne
und die trägt er im Gesicht
und Macheath, der hat ein Messer
doch das Messer sieht man nicht.

Ach, es sind des Haifischs Flossen
rot, wenn dieser Blut vergießt.
Mackie Messer trägt 'nen Handschuh
drauf man keine Untat liest.

An 'nem schönen blauen Sonntag
liegt ein toter Mann am Strand
und ein Mensch geht um die Ecke
den man Mackie Messer nennt.

Und Schmul Meier bleibt verschwunden
und so mancher reiche Mann
und sein Geld hat Mackie Messer
dem man nichts beweisen kann.

Jenny Towler ward gefunden
mit 'nem Messer in der Brust
und am Kai geht Mackie Messer
der von allem nichts gewußt.

Und das große Feuer in Soho
sieben Kinder und ein Greis -
in der Menge Mackie Messer, den
man nicht fragt und der nichts weiß.

Und die minderjährige Witwe
deren Namen jeder weiß
wachte auf und war geschändet -
Mackie, welches war dein Preis?
Wachte auf und war geschändet -
Mackie, welches war dein Preis?

Bertolt Brecht


Märchen

Das Märchen ist eng verbunden mit dem Mythos, den Vorstellungen von Götterdasein und -wirken. Es ist einsträngig: Eine Person hat Erlebnisse und vollbringt Taten, ihr ist alles Geschehen zugeordnet. Die Darstellung erfolgt schließlich aus Handlung. Es gibt bestimmte Formeln des Eingangs (Es war einmal...), des Abschlusses (Und wenn sie nicht gestorben sind...), formalhafte Motive (drei Aufgaben, Tierhilfe) und stets einen glücklichen Ausgang (der benachteiligte Bruder gewinnt die Prinzessin, die misshandelten Kinder werden erlöst).

Der Erzähler spricht von längst vergangenen Zeiten und unbestimmten Orten. Im Gegensatz zur Sage ist das Märchen losgelöst von wirklichem Geschehen. Das Volksmärchen hat keine feste Gestalt, da es mündlich überliefert worden ist. Es gibt oft mehrere hundert Varianten, die stark voneinander abweichen, v.a. wenn sie über Kontinente verbreitet sind. Das Kunstmärchen ist der Versuch einer Nachgestaltung durch einen Autor.

z.B. Der gestiefelte Kater

Es war einmal ein Müller, der hatte drei Söhne, seine Mühle, einen Esel und einen Kater; die Söhne mußten mahlen, der Esel Getreide holen und Mehl forttragen, die Katze dagegen die Mäuse wegfangen. Als der Müller starb, teilten sich die drei Söhne in die Erbschaft: der älteste bekam die Mühle, der zweite den Esel, der dritte den Kater; weiter blieb nichts für ihn übrig. Da war er traurig und sprach zu sich selbst: »Mir ist es doch recht schlimm ergangen, mein ältester Bruder kann mahlen, mein zweiter auf seinem Esel reiten - was kann ich mit dem Kater anfangen? Ich laß mir ein Paar Pelzhandschuhe aus seinem Fell machen, dann ist's vorbei.«

»Hör«, fing der Kater an, der alles verstanden hatte, »du brauchst mich nicht zu töten, um ein Paar schlechte Handschuhe aus meinem Pelz zu kriegen; laß mir nur ein Paar Stiefel machen, daß ich ausgehen und mich unter den Leuten sehen lassen kann, dann soll dir bald geholfen sein.« Der Müllersohn verwunderte sich, daß der Kater so sprach, weil aber eben der Schuster vorbeiging, rief er ihn herein und ließ ihm die Stiefel anmessen. Als sie fertig waren, zog sie der Kater an, nahm einen Sack, machte dessen Boden voll Korn, band aber eine Schnur drum, womit man ihn zuziehen konnte, dann warf er ihn über den Rücken und ging auf zwei Beinen, wie ein Mensch, zur Tür hinaus.

Damals regierte ein König im Land, der aß so gerne Rebhühner: es war aber eine Not, daß keine zu kriegen waren. Der ganze Wald war voll, aber sie waren so scheu, daß kein Jäger sie erreichen konnte. Das wußte der Kater, und gedachte seine Sache besserzumachen; als er in den Wald kam, machte er seinen Sack auf, breitete das Korn auseinander, die Schnur aber legte er ins Gras und leitete sie hinter eine Hecke. Da versteckte er sich selber, schlich herum und lauerte. Die Rebhühner kamen bald gelaufen, fanden das Korn - und eins nach dem andern hüpfte in den Sack hinein. Als eine gute Anzahl drinnen war, zog der Kater den Strick zu, lief herbei und drehte ihnen den Hals um; dann warf er den Sack auf den Rücken und ging geradewegs zum Schloß des Königs. Die Wache rief. »Halt! Wohin?« - »Zum König!« antwortete der Kater kurzweg. »Bist du toll, ein Kater und zum König?« - »Laß ihn nur gehen«, sagte ein anderer, »der König hat doch oft Langeweile, vielleicht macht ihm der Kater mit seinem Brummen und Spinnen Vergnügen.« Als der Kater vor den König kam, machte er eine tiefe Verbeugung und sagte: »Mein Herr, der Graf« - dabei nannte er einen langen und vornehmen Namen - »läßt sich dem Herrn König empfehlen und schickt ihm hier Rebhühner«; wußte der sich vor Freude nicht zu fassen und befahl dem Kater, soviel Gold aus der Schatzkammer in seinen Sack zu tun, wie er nur tragen könne: »Das bringe deinem Herrn, und danke ihm vielmals für sein Geschenk.«

Der arme Müllersohn aber saß zu Haus am Fenster, stützte den Kopf auf die Hand und dachte, daß er nun sein letztes Geld für die Stiefel des Katers weggegeben habe, und der ihm wohl nichts besseres dafür bringen könne. Da trat der Kater herein, warf den Sack vom Rücken, schnürte ihn auf und schüttete das Gold vor den Müller hin: »Da hast du etwas Gold vom König, der dich grüßen läßt und sich für die Rebhühner bei dir bedankt.« Der Müller war froh über den Reichtum, ohne daß er noch recht begreifen konnte, wie es zugegangen war. Der Kater aber, während er seine Stiefel auszog, erzählte ihm alles; dann sagte er: »Du hast jetzt zwar Geld genug, aber dabei soll es nicht bleiben; morgen ziehe ich meine Stiefel wieder an, dann sollst du noch reicher werden; dem König habe ich nämlich gesagt, daß du ein Graf bist.« Am andern Tag ging der Kater, wie er gesagt hatte, wohl gestiefelt, wieder auf die Jagd, und brachte dem König einen reichen Fang. So ging es alle Tage, und der Kater brachte alle Tage Gold heim und ward so beliebt beim König, daß er im Schlosse ein- und ausgehen durfte. Einmal stand der Kater in der Küche des Schlosses beim Herd und wärmte sich, da kam der Kutscher und fluchte: »Ich wünsche, der König mit der Prinzessin wäre beim Henker! Ich wollte ins Wirtshaus gehen, einmal einen trinken und Karten spielen, da sollt ich sie spazierenfahren an den See.« Wie der Kater das hörte, schlich er nach Haus und sagte zu seinem Herrn: »Wenn du ein Graf und reich werden willst, so komm mit mir hinaus an den See und bade darin.« Der Müller wußte nicht, was er dazu sagen sollte, doch folgte er dem Kater, ging mit ihm, zog sich splitternackt aus und sprang ins Wasser. Der Kater aber nahm seine Kleider, trug sie fort und versteckte sie. Kaum war er damit fertig, da kam der König dahergefahren; der Kater fing sogleich an, erbärmlich zu lamentieren: »Ach! Allergnädigster König! Mein Herr, der hat sich hier im See zum Baden begeben, da ist ein Dieb gekommen und hat ihm die Klei
der gestohlen, die am Ufer lagen; nun ist der Herr Graf im Wasser und kann nicht heraus, und wenn er sich noch länger darin aufhält, wird er sich erkälten und sterben.« Wie der König das hörte, ließ er anhalten und einer seiner Leute mußte zurückjagen und von des Königs Kleider holen. Der Herr Graf zog dann auch die prächtigen Kleider an, und weil ihm ohnehin der König wegen der Rebhühner, die er meinte, von ihm empfangen zu haben, gewogen war, so mußte er sich zu ihm in die Kutsche setzen. Die Prinzessin war auch nicht bös darüber, denn der Graf war jung und schön, und er gefiel ihr recht gut.

Der Kater aber war vorausgegangen und zu einer großen Wiese gekommen, wo über hundert Leute waren und Heu machten. »Wem ist die Wiese, ihr Leute?« fragte der Kater. »Dem großen Zauberer.« - »Hört, jetzt wird gleich der König vorbeifahren, wenn er wissen will, wem die Wiese gehört, so antwortet: dem Grafen; und wenn ihr das nicht tut, so werdet ihr alle erschlagen.« Darauf ging der Kater weiter und kam an ein Kornfeld, so groß, daß es niemand übersehen konnte; da standen mehr als zweihundert Leute und schnitten das Korn. »Wem gehört das Korn, ihr Leute?« - »Dem Zauberer.« - »Hört, jetzt wird gleich der König vorbeifahren, wenn er wissen will, wem das Korn gehört, so antwortet: dem Grafen; und wenn ihr das nicht tut, so werdet ihr alle erschlagen.« Endlich kam der Kater an einen prächtigen Wald, da standen mehr als dreihundert Leute, fällten die großen Eichen und machten Holz. »Wem ist der Wald, ihr Leute?« - »Dem Zauberer.« - »Hört, jetzt wird gleich der König vorbeifahren, wenn er wissen will, wem der Wald gehört, so antwortet: dem Grafen; und wenn ihr das nicht tut, so werdet ihr alle erschlagen.« Der Kater ging noch weiter, die Leute sahen ihm alle nach, und weil er so wunderlich aussah, und wie ein Mensch in Stiefeln daherging, fürchteten sie sich vor ihm. Er kam bald an des Zauberers Schloß, trat keck hinein und vor diesen hin. Der Zauberer sah ihn verächtlich an, dann fragte er ihn, was er wolle. Der Kater verbeugte sich tief und sagte: »Ich habe gehört, daß du dich in jedes Tier ganz nach deinem Belieben verwandeln könntest; was einen Hund, Fuchs oder auch Wolf betrifft, da will ich es wohl glauben, aber von einem Elefant, das scheint mir ganz unmöglich, und deshalb bin ich gekommen, um mich selbst zu überzeugen.« Der Zauberer sagte stolz: »Das ist für mich eine Kleinigkeit«, und war in dem Augenblick in einen Elefant verwandelt. »Das ist viel«, sagte der Kater, »aber auch in einen Löwen?« - »Das ist auch nichts«, sagte der Zauberer, dann stand er als Löwe vo
r dem Kater. Der Kater stellte sich erschrocken und rief: »Das ist unglaublich und unerhört, dergleichen hätt ich mir nicht im Traume in die Gedanken kommen lassen; aber noch mehr, als alles andere, wär es, wenn du dich auch in ein so kleines Tier, wie eine Maus ist, verwandeln könntest. Du kannst gewiß mehr, als irgendein Zauberer auf der Welt, aber das wird dir doch zu hoch sein.« Der Zauberer ward ganz freundlich von den süßen Worten und sagte: »O ja, liebes Kätzchen, das kann ich auch«, und sprang als eine Maus im Zimmer herum. Der Kater war hinter ihm her, fing die Maus mit einem Satz und fraß sie auf.

Der König aber war mit dem Grafen und der Prinzessin weiter spazierengefahren, und kam zu der großen Wiese. »Wem gehört das Heu?« fragte der König. »Dem Herrn Grafen«, riefen alle, wie der Kater ihnen befohlen hatte. »Ihr habt da ein schön Stück Land, Herr Graf«, sagte der König. Danach kamen sie an das große Kornfeld. »Wem gehört das Korn, ihr Leute?« - »Dem Herrn Grafen.« - »Ei! Herr Graf! Große, schöne Ländereien!« - Darauf zu dem Wald: »Wem gehört das Holz, ihr Leute?« - »Dem Herrn Grafen.« Der König verwunderte sich noch mehr und sagte: »Ihr müßt ein reicher Mann sein, Herr Graf, ich glaube nicht, daß ich einen so prächtigen Wald habe.« Endlich kamen sie an das Schloß, der Kater stand oben an der Treppe, und als der Wagen unten hielt, sprang er herab, machte die Türe auf und sagte: »Herr König, Ihr gelangt hier in das Schloß meines Herrn, des Grafen, den diese Ehre für sein Lebtag glücklich machen wird.« Der König stieg aus und verwunderte sich über das prächtige Gebäude, das fast größer und schöner war als sein Schloß; der Graf aber führte die Prinzessin die Treppe hinauf in den Saal, der ganz von Gold und Edelsteinen flimmerte.

Da ward die Prinzessin mit dem Grafen versprochen, und als der König starb, ward er König, der gestiefelte Kater aber erster Minister.

Gebrüder Grimm


Sage

Die Sage ist wie das Märchen eine kurze Erzählung, zunächst mündlich überliefert und dabei vielfach umgestaltet, die von phantastischen Ereignissen berichtet. Im Gegensatz zum Märchen ist sie als wahrhaftiger Bericht gemeint; sie ist an Ort und Zeit gebunden und knüpft an einen wirklichen Anlass an: geschichtliche Ereignisse, Gestalten, auch Gegenstände. Die Heldensage berichtet von aufregenden Ereignissen aus der Geschichte des Stammes: von den großen Taten der Krieger und Könige. Um bestimmte Helden bilden sich Sagenkreise.

z.B. Vineta

Die Stadt Vineta soll einst am Strand nahe bei Koserow gelegen haben. Sie war größer und schöner als alle anderen Städte, noch schöner als Konstantinopel. Ihre Bewohner waren über alle Maßen reich, da sie mit allen Völkern der Erde Handel trieben und ihre Schiffe aus allen Teilen der Welt die schönsten und kostbarsten Waren brachten. Ihre Stadttore waren aus Erz und die Glocken aus Silber, welches überhaupt für so gewöhnlich galt, daß man die einfachsten Dinge daraus herstellte und die Kinder auf der Straße sogar mit Silbertalern Klingpenning spielten.

Je mehr Reichtum in Vineta Einzug hielt, desto mehr verfielen die Bewohner aber auch dem Hochmut und der Verschwendung.

Bei den Mahlzeiten aßen sie nur die auserlesensten Speisen, und Wein tranken sie nur aus Bechern von purem Silber oder Gold. Ebenso beschlugen sie die Hufe ihrer Pferde nur mit Silber und Gold anstatt Eisen und ließen selbst die Schweine aus goldenen Trögen fressen. Und Löcher in den Häuserwänden verstopften sie mit Brot und Semmeln.

Drei Monate, drei Wochen und drei Tage vor dem Untergang der Stadt erschien sie über dem Meer mit allen Häusern, Türmen und Mauern als ein deutliches, farbiges Luftgebilde. Darauf rieten alte, erfahrene Einwohner allen Leuten, die Stadt zu verlassen, denn sehe man Städte, Schiffe oder Menschen doppelt, so bedeute das immer deren sicheren Untergang.

Aber man gab nichts auf diese Warnungen und verlachte sie nur. Einige Wochen danach tauchte eine Wasserfrau dicht vor der Stadt aus dem Meer und rief dreimal mit hoher, schauerlicher Stimme, daß es laut in den Straßen wiederhallte:

"Vineta, Vineta, du rieke Stadt,

Vineta soll unnergahn,

wieldeß se het väl Böses dahn!"

Auch darum kümmerte sich keiner, alle lebten weiter in Saus und Braus, bis sie das Strafgericht ereilte.

In einer stürmischen Novembernacht brach eine furchtbare Sturmflut über die Stadt herein. Im Nu durcheilte der riesige Wogenwall die Straßen und Gassen, und das Wasser stieg und stieg, bis es alle Häuser und Menschen unter sich begrub.

Man kann Vineta erlösen, wenn es alle hundert Jahre am Ostersonntag, aus dem Meer auftaucht und ein Sonntagskind in die Stadt geht und es, sei es auch nur für einen Pfennig, etwas kauft.

Man muß aber auch wissen, daß die silbernen Glocken der versunkenen Stadt am Johannistag in der Mittagsstunde aus der Tiefe herauf klingen, daß aber jeder, der ihren dumpfen, traurigen Tönen lauscht, eilends davongehen muß, er wird sonst unwiderstehlich angelockt von ihrem Klang und folgt ihm nach, bis er selbst da drunten ruht.


Legende

Legenden sind Geschichten über das Leben und die Taten von Heiligen der christlichen Glaubenslehre. Sie sind entstanden aus dem Bedürfnis schlichter Frömmigkeit, die Würdigkeit dieser Gestalten als Fürbitter und als Mittler zwischen Mensch und Gott an ihrem mustergültigen Lebenslauf und ihren Siegen über die Mächte des Bösen zu beweisen. Es gibt vergleichbare Erscheinungen in anderen Religionen. Erzählungen über religiöse Gestalten eines fremden Kulturkreises, Anekdoten über weltliche Helden und ähnliches sind keine Legenden, auch wenn sie als solche bezeichnet werden; denn der Glaube an die Heiligkeit der Dargestellten gehört zum Wesen der Legende.

Die wichtigste Sammlung von Legenden ist die "Legenda aurea" aus dem 13.Jahrhundert. Die Legende kann sich verschiedener Erzählformen bedienen, der gebundenen oder der Prosa, von der Kurzgeschichte bis zum Roman. Der Begriff wurde in der Neuzeit erweitert auf alle Werke, die das Wunderbare des göttlichen Wirkens auf der Erde aufzuzeigen suchen.


Mythe

Mythen sind Erzählungen von Göttern, Geistern und Heroen, von Schaffung und Untergang der Welt. Sie beantworten auf einer frühen, einfachen Stufe die Frage des Menschen, woher er selbst, die Welt und die Vorgänge auf ihr kommen. Die Antworten stammen aus einer Sphäre des Wunderbaren und geben ein einheitliches, anschauliches Weltbild. Stoffe, die das menschliche Fassungsvermögen in jeder Hinsicht an Grauen und Sinnverschlossenheit übersteigen, können nur mit den Mitteln der mythischen Darstellung eingeholt, gestalthaft umrissen und transparent gemacht werden. Geschehnisse, die die Menschen rational nicht fassen, nur leidhaft erleben konnten, wurden zu Mythen (große Überschwemmung = Sintflut). Diese sind gleichzeitig die frühesten Dichtungen. Sie gelten als Urdichtung und faszinieren spätere, rationale Zeiten immer wieder durch ihre Poesie. Dichterische Ausformungen von Mythen sind z.B. die Epen Homers und die Edda, Versuche einer Wiederbelebung der "Ring des Niebelungen" von Wagner oder Thomas Manns Romantetralogie "Joseph und seine Brüder".