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Die Erste

Angelika Gentgen - April 1993

Es war kurz vor Ostern.

Ich war den ganzen Tag von Termin zu Termin gehetzt.
Nun betrat ich die Praxis eines renomierten Augenarztes, um auch diesen, für heute letzten Termin hinter mich zu bringen.

Nach den üblichen Anmeldeformalitäten ließ ich mich abgespannt auf einen der dort bereitstehenden Stühle fallen.
Ich schloß die Augen, um einige Minuten in Ruhe über den vergangenen Tag nachzudenken.

Nur am Rande nahm ich die Geräuschkulisse um mich herum wahr.
Das Wartezimmer war eher ein Warteflur. Von ihm führten einige Türen zu den entsprechenden Behandlungszimmern ab.
Die Anmeldung befand sich am Anfang dieses Flures und war ebenfalls von meinem gewählten Platz gut zu sehen; besser: zu hören.

Eine der Türen ging auf.
Jemand sagte: "Komm, ich helfe Dir, Mutter."
"Danke mein Junge, es geht schon."

Ich blinzelte und sah als erstes ein Paar knallroter Socken.
Sie gehörten zu einem Mann, etwa Mitte Vierzig, der mir gegenüber saß.
Sein Äußeres war ein wenig ungepflegt. Doch er wirkte keinesfalls unattraktiv. Er trug einen braunmelierten Vollbart, Rollkragenpulli und darüber einen etwas speckigen Anorak.
Mein Blick wanderte weiter.
Die Alte neben ihm war sicherlich mehr als Achtzig Jahre alt.
Sie trug ein hellbraunes Kittelkleid, darunter eine Bluse mit Blümchenmuster. Die Haare hatte sie zu einem Knoten zusammengefasst. Neben ihr stand ein Rollstuhl.

Die beiden unterhielten sich erstaunlich leise.
"Gleich bekommst Du noch einmal Tropfen in Deine Augen, damit sich die Pupillen weiten."
Der Mann nahm sich eine Illustrierte.
Plötzlich knuffte er die Alte zärtlich an.
"Was meinst Du, Du könntest mich ja eigentlich zu einem Eis einladen." Die Alte lächelte verschmitzt: "Ich hab mein Portemonnaie zu Hause auf dem Tisch liegen lassen."
"Das wär ein Ding. Wir gehen Eis essen, und zu Hause sind sie am bügeln."

Die beiden unterhielten sich so herzlich miteinander, dass mittlerweile auch andere Patienten aufmerksam geworden waren und das Paar verstohlen beobachteten.

Nach einer Weile fragte die Alte, ob sich ihre Pupillen schon geweitet hätten. Ein kurzer Blick: "Oh ja, die sind jetzt riesengroß." "Wirklich?" "Ehrlich!" Wieder dieses verschmitzte Lächeln der Alten: "Ich kann`s nicht sehn."

Der Unterhaltung entnahm ich, dass die Alte eine Bäuerin war.

Nun sprachen sie darüber, wann sie zu Ostern die Messe besuchen würden. Der Sohn wollte sich mit seiner Familie am Ostermorgen den kirchlichen Segen holen. Die Alte jedoch meinte: "Ich geh´ lieber am Sonntagabend; da kann ich morgens mal länger schlafen."

"Früher ist Vater immer am Karfreitag auf`s Feld gegangen."
"Ja, da hat er immer Frühkartoffeln gesetzt."
"Das hat er extra gemacht, um Dich zu ärgern, weil Du das nicht gerne sahest."

Draußen begannen die nahegelegenen Kirchturmglocken zu läuten.
"Warum läutet es denn? Die Glocken müßten doch schon still sein!"
"Morgen ist das, wo die Glocken nach Rom fliegen, Mutter.... Das hast Du uns früher immer erzählt.... Du hast uns sowieso oft belogen!"

"Frau Gentgen, bitte."

Leider konnte ich der Unterhaltung nicht weiter folgen.
Aber noch Tage später gingen mir die beiden nicht aus dem Kopf.
So setzte ich mich hin und versuchte in der ersten Kurzgeschichte meines Lebens, das Erlebte in Worte zu fassen.





Über das Gedicht

Veröffentlicht: 31.03.2004
Kategorie: Kurzgeschichten

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