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Justitia

Angelika Gentgen - 19.11.2004

Ich traf sie um die Mittagszeit in der Nähe des Gerichtsgebäudes.
Aufgefallen war sie mir schon an den vorangegangenen Tagen.
Sie wirkte wie aus einer vorigen Welt, wie aus einer Schwarzweißwelt; das wie kalkgepuderte Gesicht, der graue Umhang, das graue Halstuch.
Einzig die große Messingwaage in ihrer Hand schien einem Farbfilm entliehen.

Sie stand nur da und beobachtete, ein staunendes Lächeln auf dem Gesicht.
Die Menschen strömten an ihr vorbei. Sie waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass ihnen Justitia - so hatte ich sie getauft - besonders auffiel.
Außerdem waren sie hier in der Großstadt weißgott an absonderliche Gestalten gewöhnt.

Nun sprach Justitia ein vorübereilendes junges Pärchen an. Ich konnte nicht hören, was sie zu den beiden sagte, aber die zwei schauten meine Gerechtigkeitsgöttin fragend an, die Köpfe zusammengesteckt, dann blickten sie sich kurz und etwas ratslos an und schüttelten dann beide heftig den Kopf.
Engumschlungen gingen sie weiter, und Justitia blickte ihnen stirnrunzelnd hinterher.

Die nächsten zwei Personen, die sie ansprach - offensichtlich ein schon altersmüdes Ehepaar - blieben beide stehen, hörten kurz zu, winkten nur ab und verschwanden schnell in der Masse.

Neugierig geworden ging ich auf meine Justitia zu.
Auf die Frage hin, was sie denn da mache, antwortete sie mir, dass sie versuche ein Phänomen zu klären.
Immer sei die Liebe zweier Menschen zueinander unterschiedlich groß. Das wäre schon seit Menschengedenken so. Während der eine sich verzehre nach einer bestimmten Person, wolle der andere nichts oder nichts mehr von ihr wissen. Während die Liebe des einen glühe wie Lava, sei die Liebe des anderen schon erkaltet.

So oft gäbe es eine Ungleichzeitigkeit der Liebe!

Sie würde den Paaren ihre Theorie erklären und ihnen zum Zwecke der Beweisführung anbieten, ihre gegenseitige Liebe jeweils in die beiden Seiten der Waagschale zu legen, also jeder solle seine Liebe, die er für den Partner empfinde in eine der Waagschalen legen, der andere dann in die gegenüberliegende Waagschale.
So würde sich ihr Theorie bestätigen lassen.
Aber keiner der Paare sei bereit seine Zuneigung messen zu lassen. Sie versuche es jetzt schon seit Tagen, Testpersonen zu finden, seufzte sie. Und sie wirkte sehr unglücklich dabei.

Ich antwortete ihr, dass das ja auch nicht verwunderlich sei. Keiner wolle ja in Gegenwart des Partners der Minderliebe ertappt werden. Keiner möchte den anderen enttäuschen. Die Ilusion solle gewahrt bleiben, oder man möchte den Partner nicht verletzen.

Oh ja, aus dieser Warte hätte sie das noch nicht gesehen, sagte mir Justitia.
Sie sei manchmal etwas weltfremd. Und wieder lächelte sie.


Unsere Wege trennten sich.


Nach Tagen hatte ich einen Botengang im Gerichtsgebäude zu erledigen.

Als ich das Foyer betrat sah ich sie sofort.
Jetzt wusste ich, wo ich sie schon einmal gesehen hatte.
Sie stand dort auf dem Sockel, mit verbundenen Augen, die Waagschale in der einen Hand und einen Ölzweig in der anderen.
Als ich an ihr vorüberging schaute ich hoch und sagte: "Hallo Justitia, ich bin`s."
Und ich glaube, sie hat mir unter ihrer Augenbinde zugezwinkert.





Über das Gedicht

Veröffentlicht: 22.11.2004
Kategorie: Kurzgeschichten

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