Ich bin neulich gefragt worden
Angelika Gentgen - 22.06.2003
Ich bin neulich gefragt worden:
„Jetzt hast Du schon soviel geschrieben. Aber ich finde nicht eine einzige Kurzgeschichte, nicht ein einziges Gedicht, in dem Du Dich mit der Erkrankung Deines Mannes auseinandersetzt (Muskeldystrophie nach Curschmann-Steinert) ?!“
Sie hatte Recht.
Ich habe daraufhin – nach kurzer Überlegung – geantwortet:
„Es ist nicht so, dass ich mich, oder wir uns mit dieser Krankheit nicht beschäftigen.
Aber, alles was ich schreiben würde, liest auch mein Mann. Es ist kein Tagebuch, welches ich mit Schloss versehen und verstecken kann. Und alles was ich aufzeichnen würde, wird ihm weh tuen.“
Ich muss auch auf vieles verzichten; nicht nur er. Soll ich ihm da das Herz noch schwerer machen?
Aber jetzt, wo ich das hier schreibe, überlege ich, ob ich nicht doch einmal meine Gedanken schriftlich festhalten soll!
Mein Mann wurde mit 39 Rentner. In diesem Jahr feiert er seinen 50. Geburtstag. Und ich meinen 46. Ich war schon immer die, die das Geld hereinbrachte. Die Krankheit wurde bei ihm festgestellt als er 26 Jahre alt war. Zu diesem Zeitpunkt waren wir bereits seit 2 Jahren verheiratet. Auf Kinder verzichteten wir bewusst – weil es ja eine Erbkrankheit ist.
Obwohl einmal ein Freund zu mir sagte: „Du wärest die ideale Mutter!“
Die Krankheit meines Mannes schreitet fort. Er besitzt seit 7 Jahren einen elektrischen Rollstuhl, den er bei längeren Strecken benutzt, d.h. auch schon für einen Spaziergang.
Ich sehne mich danach, einfach einmal einen „ganz normalen“ Spaziergang zu machen, händchenhaltend. Aber, das ist nicht möglich. Immer brummt der Rollstuhl zwischen uns; alle Naturgeräusche werden dadurch verschluckt.
Ich liebe die Natur so sehr; das Vogelgezwitscher, das Rauschen der Bäume, das Plätschern des Baches...
Wir können mit dem Rollstuhl nur über asphaltierte Strecken fahren. Gerade die schönen alten Städte sind meist kopfsteingepflastert. Ein fast unmögliches Unterfangen. Sollten wir es wirklich einmal wagen so ein Kopfsteinpflasterstädtchen zu besichtigen, stöhnt mein Mann über die holperige Straße und über die Rückenschmerzen, die sie ihm bereitet. Und ich komme mir dann voller Schuld vor. Er ist ja nur meinetwegen mitgefahren.
Wie beneide ich die Pärchen, die Hand in Hand gehen, ab und zu an einer Schaufensterauslage anhalten, gemeinsam lästern über den Kitsch der dort ausgelegten Waren, oder nur gemeinsam überlegen: „Schau mal, so eine Tischdecke könnten wir doch auch gut gebrauchen?!“
Es ist nicht möglich mit ihm ein Museum auf die „normale Art“ zu besuchen: Die Pärchen unterhalten sich – die Gesichter nur Zentimeter voneinander entfernt – über das was sie gerade in sich aufnehmen: „Siehst Du das auch? Dort das kleine Gesicht, versteckt in dem Gemälde, oder die winzigen Chagalle-Häuschen in dem Bild, die man erst auf den 2. oder 3. Blick erkennt?“
Wenn ich ihn überrede, mit mir ein Museum zu besichtigen, so wie vor kurzem das Burgenmuseum in unserer Nähe, was sich in einer alten Burg befindet, in der es viele Stufen zu erklimmen gilt, in dem der Rollstuhl untauglich ist, und mein Mann sich nur aus Liebe zu mir darauf einlässt, es aber kaum schafft, die steilen Wendeltreppen hinab oder hinauf zu steigen, komme ich mir immer sehr schuldbewusst vor, und ich denke: „Vielleicht wären wir besser zu Hause geblieben!“ Aber zu ihm sage ich: „Nun lass Dich mal nicht hängen! In ein paar Jahren ist es womöglich nicht mehr machbar, dass Du ohne Rollstuhl überhaupt ein Museum besuchst. Und dann kannst Du das Burgenmuseum hier vergessen!“
Ich komme mir dann sehr hart vor. Aber nur so kann ich ihn aus dieser Lethargie reißen, die ihn immer befällt; lt. Krankheitsbild eine „gewisse Antriebslosigkeit.“.
Wie gerne würde ich einmal eine „ganz normale“ Radtour unternehmen. Aber Fahrrad fahren ist für ihn unmöglich, da sein Gleichgewichtssinn gestört ist. Er besaß für kurze Zeit ein motorisiertes Dreirad. Aber das war mit einem 2-Takt-Motor ausgestattet, es ließ sich kaum starten, oder es ging während der Fahrt aus und ließ sich nicht mehr in Gang bringen, so dass er es nur mit viel Mühe schaffte, das 50 kg-Rad mit manuellem Antrieb durch unsere hügelige Landschaft nach Hause zu bewegen.
Außerdem hat man uns gesagt, dass ein Zuviel an körperlicher Betätigung für ihn nur schädlich sei und seine Muskulatur nur abbauen und nicht aufbauen würde.
Da ich ganztags berufstätig bin und er immer darauf wartet, dass ich endlich nach Hause komme, möchte ich ihn in meiner Freizeit auch nicht zu oft alleine lassen. Ich verstehe ja, dass er sagt: „Es ist so schön, wenn Du da bist. Auch wenn Du nicht neben mir sitzt. Hauptsache Du bist zu Hause!“
Ich flüchte mich dann in Bücher, oder ich schreibe Gedichte und Kurzgeschichten So bin ich wenigstens körperlich anwesend.
Wie gerne würde ich einmal mit ihm Federball spielen oder einen Dauerlauf machen oder am Strand entlang spazieren, um dann gemeinsam mit ihm – wie die Kinder – ausgelassen ins Wasser zu laufen.
Es fällt ihm immer schwerer die Hausarbeit zu bewältigen, Unkraut zu jäten oder den Rasen zu mähen. Aber er versucht es. Und ich muss oft darüber hinwegsehen, dass alles nicht so perfekt ist, wie ich es mir wünsche.
Wir sind ein eingespieltes Team. Den Wäschekorb mit schmutziger Wäsche bringe ich in den Keller, wo er dann sortiert, wäscht, trocknet, faltet. Die Schrankwäsche transportiere ich dann wieder ins Schlafzimmer, er räumt sie ein, und die Bügelwäsche wartet im Keller, solange bis ich den nötigen Elan und die nötige Zeit aufbringe, mich ihrer zu erbarmen.
Natürlich machen wir uns auch Gedanken darüber, was ist, wenn er gar nicht mehr laufen kann. Wir haben in Erwägung gezogen das große Haus zu verkaufen und uns eine behindertengerechte Wohnung zuzulegen. Aber, wir möchten nicht weg von diesem Platz. Hier ist unsere Familie in unmittelbarer Nähe versammelt.
Es wäre möglich unser Erdgeschoss rollstuhlgerecht umzubauen und den 1. Stock eventuell zu vermieten. Wahrscheinlich werden wir diesen Schritt einschlagen, sollte es wirklich nötig sein.
Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass mein Schwiegervater – mit dieser Krankheit – 68 Jahre alt wurde und er es noch bis zum Schluss schaffte – wenn auch auf allen Vieren – die Treppe nach oben zu bewältigen.
Aber dann sage ich mir: Die Krankheit Wolfgangs ist schlimmer!
Mit jeder Generation verschlimmert sich die Erbkrankheit. Es ist ein mutiertes Gen, das mit jeder Generation öfter vorhanden ist.
Viele Folgekrankheiten sind mit dieser Muskeldystrophie verbunden.
Die Mutter meines Schwiegervaters hatte „nur“ Grauer Star. Mein Schwiegervater hatte Grauer Star, Diabetes, ein Herzmuskelschwäche – darum einen Herzschrittmacher -, eine Myotonie in den Händen, d.h. keine Kraft in den Fingern, Senkfüße, was schnelles Stolpern verursachte. Er wurde auch früh Rentner und hatte diese „gewisse Antriebslosigkeit“, obwohl er in jungen Jahren sehr aktiv Sport betrieb. Er boxte, war Fußballspieler mit Leib und Seele und anschließend lange Jahre Trainer und Schiedsrichter. Aber später trieb er nur noch passiv viel Sport, mit den Augen vor dem Fernseher.
Mein Mann hat auch Grauer Star, weshalb man ihm an beiden Augen künstliche Linsen einsetzte. Noch hat er keine Diabetes, und das Herz ist noch in Ordnung, aber, bei jeder kleinen Unregelmäßigkeit sorgt man sich und denkt: „Hoffentlich ist es kein Herzinfarkt!“
Ich habe meinem Mann schon vorgeschlagen, er solle seinen Arzt doch einmal befragen, ob er ihm nicht prophylaktisch einen Herzschrittmacher einsetzen könne. Ich wäre dann beruhigter. Der Arzt hat daraufhin nur gelächelt und geantwortet: „Nun machen Sie sich mal keine Sorgen, noch ist das nicht nötig.“ – Aber ich sorge mich trotzdem.
Auch Wolfgang hat keine Kraft in den Fingern. Bei jeder Anschaffung müssen wir daran denken: Kriegt er diese Tür auch auf, die Heckklappe des Autos, das Nachttischschränkchen, die Spülmaschine, den Herd?
Koffer tragen ist für ihn unmöglich, einen Kasten Wasser oder Bier ebenfalls. Oft kann er schon einen Schraubverschluss an einer Flasche nicht ohne Probleme losdrehen. Er schafft es nicht eine Tüte mit Gummibärchen, Chips oder Käse mit den Händen – ohne Hilfsmittel – aufzuziehen. Überall im Alltagsleben stößt er auf Schwierigkeiten.
Zum Glück fahrt er noch Auto, wenn auch nur kurze Strecken. Einmal haben wir uns ein altes Zweitauto mit Choke zugelegt, ohne darüber nachzudenken, dass er diesen Choke überhaupt nicht ziehen konnte - es war sein Auto. Er hat dann mit Hilfe eines Verlängerungs-L-Stückes, das er sich ins Fahrzeug legte, dieses Manko behoben.
Er kann auf keine Leiter klettern, also tapeziere ich, und er handlangert.
Im Schrauben bin ich mittlerweile auch ganz gut.
Eine Zeit lang habe ich ihm die Finger- und Zehennägel geschnitten und gefeilt, weil er das nicht selber kann. Aber dann dachte ich: „Die Liebe geht verloren.“
Er fährt jetzt regelmäßig zur Maniküre.
Auch hat er diese Senkfüße, d.h. er kann die Füße vorne nicht anheben. Auch er stolpert deshalb schnell und zog sich dadurch schon einige Verletzungen zu, einen gebrochenen Arm, einen verknacksten Fuß...
Zeitweise nahm er blutverdünnende Medikamente, da bei ihm durch den fehlenden schnellen Bluttransport – muskelbedingt – die Gefahr eines sich bildenden Blutgerinnsels groß ist; eine Thrombose hat er bereits hinter sich, mit Intensivstation usw.; er aber schnell stürzt, und dann die zugezogenen Wunden schlecht heilen, sagte man ihm, er solle das Mittel besser absetzen.
„Im Leben kommt es immer darauf an, zwischen zwei Übeln das kleinere zu wählen.“
Stützstümpfe auf längeren Reisen sind für ihn eine Selbstverständlichkeit, die er sich natürlich nicht selber anziehen kann.
Ein Vollnarkose bedeutet für ihn, da dabei die Muskulatur lahmgelegt wird, dass sie sich im Anschluss daran nicht mehr richtig aufbaut. Das hat ihm schon eine OP aufgrund eines Blinddarmdurchbruches unter Teilnarkose eingebracht.
Vor 7 Jahren – 1996 - stürzte er in unserem Treppenhaus so heftig – weil er sich mit seinen Händen nicht am Geländer festklammern konnte – dass er mit dem Hinterkopf auf dem harten Fliesenboden aufschlug. Er zog sich dabei einen Schädelbruch, Gehirnblutungen, eine 20-cm-Narbe am Hinterkopf und eine Vollnarkose zu. Seit dieser Zeit besitzt er den Rollstuhl.
Anfangs fehlte ihm jedes Riech- und Geschmacksvermögen. Aber die Ärzte sagten: „ Das gibt sich.“ Heute ist beides noch nicht vollständig vorhanden; aber er kann wenigstens ein bisschen riechen und schmecken.
Ich stelle mir vor, wie das ist, keinen Geschmacks- und Geruchssinn zu besitzen, und ich finde alleine die Vorstellung grauenvoll.
Ich erinnere mich des Tages, als er ganz aufgeregt vom Einkauf zurückkam und er mir sagte:
„Du, stell Dir vor, heute habe ich von der Bäckerei im Extra wieder etwas riechen können. Ich bin gleich ein paar Mal vor den Auslagen rauf und runter gegangen und konnte mich nicht satt riechen! Der Duft von frischen Brötchen, ich hatte ihn schon fast vergessen!“
Wir haben dann beide ein wenig geweint ...
So versuchen wir nur die glücklichen Augenblicke in unseren Herzen festzuhalten und hoffen, dass es derer noch recht viele geben wird...
Angelika Gentgen
22.06.2003