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Eine Weihnachtsgeschichte (V)

Petra Friedel - 2017

Am nächsten Tag saßen die beiden Freundinnen pünktlich im Turmzimmer hoch oben bei den Wolken. Sie hörten die Turmuhr schlagen und genau beim zwölften Schlag klopfte etwas ans Fenster. Draußen erblickten sie ein seltsames Ding, das regungslos in der Luft hing und von dem man nicht wusste, wie es sich dort hielt, ohne herunterzufallen. Es sah aus wie eine große Kaffeekanne mit einer Tür, welche sich jetzt öffnete und aus der die Fee ihnen zuwinkte. Sie hob eine goldene Gerte und ehe sie sich‘s versahen, saßen beide Kinder in der riesigen Kanne. Drinnen war es gemütlich warm und die Gutewünschefee schloss die Tür. Dann stöhnte sie: „Die Zeit ist mir davongelaufen! So viel war zu tun: die Teller abwaschen, den Boden fegen, die Kleider waschen.“ Fienchen sagte erstaunt: „Du kannst doch zaubern! Ich an deiner Stelle würde Teller, Boden und Kleider ganz einfach sauberzaubern!“ Die Fee lachte: „Das wäre gegen die Regeln des Feenreiches. Stell dir doch einmal vor, wir würden stets nur alles zurechtzaubern, so wie wir es gerade brauchen! Dann hätte keine von uns Feen etwas zu tun und der Tag wäre langweilig und öde. Nein, wir dürfen nur anderen Wesen Wünsche erfüllen. Unsere eigenen Wünsche herbeizuzaubern ist streng verboten! Wer gegen dieses Verbot verstößt, verliert seine Zauberkräfte. Deshalb hatte ich heute Morgen viel zu tun und habe nicht bemerkt, wie schnell es Mittag wurde. Es blieb keine Zeit mehr, die Pferde anzuschirren. Also habe ich kurzerhand die Kaffeekanne in eine Kutsche verwandelt. Es ist euer Wunsch, den Weihnachtsmann zu besuchen, daher durfte ich das. Und es ist ja auch ganz lustig, einmal in einer Kaffeekanne zu reisen, oder?“
Während beide Kinder eifrig nickten, begann die Kaffeekanne leise zu sirren und sauste los. Über Wiesen und Felder hinweg, die tief unter ihnen lagen. An Häusern vorbei, die von oben wie kleine Bauklötze aussahen. Immer schneller wurde die Kanne, bis man schließlich nichts mehr von dem erkennen konnte, was unten am Boden vorbeizog. Die Fee meinte: „Zwei Minuten, Kinder, und wir sind da!“
Genau so war es dann auch, nach zwei Minuten wurde die Kanne langsamer und landete schließlich in einem Tal, das zwischen hohen Bergen lag. Sie stiegen aus und sahen viele kleine Häuser, von denen jedes in einer anderen Farbe angestrichen war und deren eingeschneite Dächer aussahen wie weiße Wollmützen. Sie waren kreisförmig angeordnet und in ihrer Mitte stand rotes Haus, welches viel größer war als die anderen. In den kleinen Häusern herrschte reges Treiben: in einem hämmerte und klopfte es, aus einem zweiten zog süßer Lebkuchenduft, aus einem dritten drang Glockengeläut und Weihnachtsmusik: in jedem dieser Häuser schien etwas anderes vorzugehen. Die Fee steuerte schnurstracks auf das große Haus in der Mitte zu: „Dort müssen wir hin, dort ist die Weihnachtsmann-Zentrale.“
Die Kinder folgten ihr und beim Haus angekommen, traten sie neugierig ein. Drinnen standen hohe Regale, in denen bunt verpackte Pakete lagen. Fienchen flüsterte: „Das sind bestimmt die Geschenke für die Kinder!“
„Richtig, Kleine!“ dröhnte eine tiefe Stimme aus einem der Nebenzimmer und der Weihnachtsmann erschien im Türrahmen. Er sah ganz so aus, wie ihn die Kinder sich immer vorgestellt hatten: sein roter Mantel reichte bis zum Boden, nur ein Paar schwarzer Stiefel schauten hervor. Auf dem Kopf trug er eine rote Mütze mit weißem Fellrand, der gut zu seinem langen weißen Bart passte. Er trat näher: „Ihr seid also Genefa und Fienchen. Egbrecht hat mir schon von euch erzählt!“
Genefa staunte: „Du kennst Egbrecht, Weihnachtsmann?“
„Aber sicher, Kind. Egbrecht wohnt in einem der Häuser da draußen und ist gerade fleißig dabei, Holz zu sägen. Für Spielzeugautos, für Holzpferdchen – für alle Dinge, die ein Weihnachtsmann so braucht, um den Kindern Freude zu bringen. Nur manchmal büxt der Egbrecht aus und ich weiß dann stets, wo ich ihn finde. Im Schloss, besser gesagt in der Speisekammer der Schlossküche. Dort stibitzt er jedes Jahr einige Honigkrapfen. Barbara bäckt die besten im ganzen Land, auch ich bekomme jedes Jahr zu Weihnachten, wenn ich die Geschenke auslade, hübsch verpackte Honigkrapfen. In diesem Jahr hat Egbrecht aber übertrieben, einen Tag lang hatte er fürchterliche Bauchschmerzen!“
Der Weihnachtsmann stupste Fienchen fröhlich an und sagte dann: „Nun kommt, ich habe mir schon Gedanken gemacht. Euer Wunsch scheint ausführbar, aber ihr müsst helfen. Die besten Wünsche sind sowieso jene, die man sich selbst erfüllen kann.“
Er nahm die Gutewünschefee in den Arm und beide traten zur Tür hinaus. Genefa und Fienchen folgten ihnen zu einem dunkelblau angestrichenen Häuschen mit weißer Mütze. Drinnen wurde gebastelt und geklebt. War ein Teil fertig, wurde es ins nächste Haus gebracht, wo das Spielzeug seinen bunten Anstrich bekam.
Der Weihnachtsmann ging in eine Ecke des Raumes und nahm eines der Bretter, die dort an der Wand lehnten. Er winkte die Kinder zu sich heran: „Ich habe folgende Idee: wir bauen einen stabilen, festen Hocker und darunter setzen wir Kufen. Solche, die auch die Pferdekutschen im Winter haben. Ein Pferd gibt es freilich nicht für solch eine kleine Kufenkutsche, aber wir befestigen ein Seil an ihrem Vorderteil. So kann einer von Euch das Ding über den Schnee ziehen, während der andere sich draufsetzt.“
Gemeinsam fingen sie an, dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen. Der Hocker geriet ein wenig zu lang, dafür war er sehr flach. Genefa sah den merkwürdigen Hocker, welchen sie gerade zusammengeleimt hatten, zweifelnd an. „Damit soll sich spielen lassen, Weihnachtsmann? Es hat ja immer nur ein Kind Spaß, weil das andere ziehen muss. Falls es überhaupt ein Spaß ist, auf einem Holzhocker zu sitzen und ganz langsam durch die Gegend zu kutschieren.“ Der Weihnachtsmann schmunzelte: „Warte nur ab, Genefa!“
Dann wandte er sich der Gutewünschefee Ännli zu und bat: „Kannst du jetzt die Kufen darunterzaubern?“ Die streckte ihre goldene Gerte aus und murmelte etwas vor sich hin und zack: aus dem merkwürdig flachen und langen Holzhocker wurde eine Holzhockerkufenkutsche! Der Weihnachtsmann klatschte vor Freude in die Hände: „Prima, genau so habe ich es mir vorgestellt. Kinder, lauft zu den Seilern und holt ein Seil, das binden wir vorn an und dann geht es los! Ich zeige euch, was man mit dieser Holzhockerkufenkutsche Schönes anfangen kann!“
Das Seil war schnell geholt und die Kinder banden es an. Dann drehte der Weihnachtsmann das Gefährt um und drückte beiden Kindern eine Kerze in die Hand: „Jetzt reibt damit die Kufen ein, dann lässt es sich besser schlittern!“
Genefa und Fienchen wunderten sich zwar, rieben aber die Kufen ordentlich mit Wachs ein. Sobald sie damit fertig waren, ging es hinaus in den Schnee. Der Weihnachtsmann forderte die Kinder auf, sich auf die Holzhockerkufenkutsche zu setzen, rittlings hintereinander. Er nahm das Seil in die Hand und los ging der lustige Ritt. Mal lief er langsam, dann wieder sauste er los, so dass sich die Kinder festhalten mussten, um nicht herunterzufallen. Er zog sie einen kleinen Berg hinauf und prustete: „Nun ist es aber erst einmal genug, ich bin völlig außer Puste. Lasst mich bitte auf die Holzhockerkufenkutsche setzen, bis ich wieder zu Atem komme.“ Bereitwillig standen die Kinder auf und der Weihnachtsmann plumpste erschöpft auf ihr Gefährt. Durch die Wucht des Aufpralles aber setzte es sich in Bewegung, immer näher an den Hang heran, an welchem es steil bergab ging. Zum Aufstehen kam der Alte nicht mehr und das Ding sauste mit ihm den Berg hinunter, während er eins ums andere Mal laut: „Huch, nicht so schnell!“, „Ohweh, mir wird schwindelig!“ und „Auweia, das wird ja immer schneller!“ rief. Unten angekommen, bremste die Holzhockerkufenkutsche abrupt und der Weihnachtsmann purzelte unsanft in den Schnee. Das sah derart komisch aus, dass Fienchen kicherte und Genefa sie in die Rippen stieß: „Lach nicht, lass uns lieber laufen und schauen, ob er sich verletzt hat!“
Sie rannten los und als sie beim Weihnachtsmann ankamen, rappelte der sich gerade auf und lachte: „Das müsst ihr auch probieren! Mit einer Holzhockerkufenkutsche den Berg hinunterzuschlittern macht Spaß! Und fallt ihr um, tut es nicht einmal weh, der Schnee lässt euch weich landen! Los, probiert es aus, ich hatte lange nicht solch einen Spaß!“
Die Kinder ließen sich nicht lange bitten und zogen das selbstgebaute Gefährt immer wieder den Berg hinauf, um im Anschluss mit ihm den Berg wieder hinabzusausen.
Irgendwann aber hat auch der schönste Spaß ein Ende und es war Zeit, sich zu verabschieden. Sie drückten den Weihnachtsmann von Herzen und jener meinte, bevor sie in die Kaffeekanne stiegen: „Kinder, Holzhockerkufenkutsche ist kein schöner Name für ein Spielzeug, mit welchem es sich so lustig den Berg hinabschlittern lässt. Einen Namen brauchen wir noch für unsere Erfindung!“
Da rief die Gutewünschefee Ännli: „Ich hab’s, lasst uns das fröhliche Ding, das so schön schlittert, Schlitten nennen!“
Alle nickten und seit dieser Zeit nun gibt es den Schlitten. Manchem Kind hat der Weihnachtsmann seitdem einen Schlitten zu Weihnacht gebracht und jedes Mal denkt er dabei an jenen fröhlichen Tag mit Genefa, Fienchen und der Gutewünschefee Ännli.

Ende





Über das Gedicht

Veröffentlicht: 09.12.2017
Kategorie: Märchen & Fabeln

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