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Libelle und Schwan (am Noor)

Gabyi - 2003

Das Unglaubliche geschah ganz nah an einem alten, abgeschnittenen Meeresarm der Ostsee.

Es war ein durch und durch stehendes Gewässer von Brackwasser, ein Noor oder vielleicht auch ein Ästuar, genau kann ich es nicht mehr sagen, zu lange Zeit schon liegt es zurück. Nur eines weiß ich ganz sicher, es war eine böse Macht, die hier für eine kurze Zeit die Herrschaft übernommen hatte. Ganz unbemerkt hatte sie sich eingeschlichen, heimlich und leise gleich nach dem Ende des Krieges, als nichts mehr so war wie vorher.

Die nicht zu ignorierenden Attacken des Bösen hatten sich jedoch schon weit vor ihren offensichtlichen Auswirkungen mit winzigen, undedeutenden Kleinigkeiten angekündigt. Die eingeleiteten Rinnsale aus dem nahen Schlachthof waren ein ganz klein wenig dunkler in ihrem Rot als vorher, die Gefieder der Schwäne trugen plötzlich ein etwas leicht angeschmutztes Grau und die blaugrün schimmernden Libellen erstarrten jetzt viel öfter in ihrem Fluge als bisher. Unwesentliche Details, aber wer aufmerksam beobachtete, hätte es schon viel eher bemerken können. Doch wer beobachtete schon gern in dieser Zeit des Aufbaus Feinheiten an einem abgestandenen Gewässer?

Es begann alles ganz harmlos mit dem Bau einer Siedlung von Baracken aus dunkelrot gestrichenem Holz ganz nah bei einem Bahnübergang und nicht weit von dem stehenden Gewässer entfernt. Hier fanden nach Kriegsende Heimatvertriebene aus verschiedensten ehemaligen Provinzen ihre erste und vorübergende Zuflucht, bevor dann später und am Ende das Lager in einer schwülen Sommernacht lichterloh in Flammen aufging. Dazwischen lagen lange Jahre des stillen Martyriums, der Trauer, Ausgrenzung, Armut und der Entbehrung.

Säuglinge, die in Wäschekörben und Kommodenschubladen ihre ersten Monate verbrachten und streng riechende Kinder, die mit einer dunklen Borke von Schmutz und Staub überzogen waren, konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier fast unbemerkt eine unausgesprochene und unsägliche Ungerechtigkeit stattfand.

Am Anfang wurden die schönen, sanften Schwäne, die vorher idyllisch und romantisch über das Wasser glitten, ganz allmählich angriffslustig, ohne dass eine Verteidigung ihrer Jungtiere als Ursache vorlag. Und eines Tages wurde ein kleines Mädchens aus dem Lager von einem riesigen Schwan angefallen und so schwer verletzt, dass es später an einer Blutvergiftung als Folge der Verwundung starb, die ihr der Vogel mit seinem Schnabel zugefügt hatte.

Ein Raunen der Selbstgerechtigkeit ging damals durch die kleine Stadt.
"Ja, ja, die verwahrlosten Flüchtlingskinder. Was kümmern die sich auch nicht um ihre Brut..."

Wie schon gesagt, ich weiß nicht mehr, an welcher Art von See sich damals das Unfassbare zutrug, doch an eines erinnere ich mich noch ganz genau. Denn mitten in der Nacht riss mich mein Vater aus dem Kinderbettchen heraus und rief:
"Wach auf, wach auf, schnell, das Lager brennt. So ein einmaliges Schauspiel, das muss man einfach gesehen haben!"

Es waren nur noch die Pfützen der Löschzüge im Morgengrauen zu sehen in dem morastigen Erdreich, auf dem das Lager stand. Gestanden hatte, denn die roten Baracken waren jetzt nur noch schwarze verkohlte Ruinen aus abgebrannten Holzgerippen und von den Menschen fehlte jede Spur. Ob sie im Krankenhaus lagen, das interessierte hier keinen und konnte mir auch niemand sagen.

Und nur noch die blaugrün geflügelten Libellen über dem See hätten vielleicht die wahre Geschichte erzählen können.

Aber sie waren verstummt und standen wie erstarrt über dem braunen Wasser...





Über das Gedicht

Veröffentlicht: 18.06.2003
Kategorie: Kurzgeschichten

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