Westerland - Teil I

Mit der Reise nach Westerland brach für sie ein völlig neues Leben an.
Es war nicht das erste Mal, dass sie nach Sylt fuhr. Damals, beim ersten Besuch, war sie noch gemeinsam mit ihren Eltern in der Eisenbahn auf die Insel gereist. In Westerland wurde sie bei ihrer Tante Inge abgegeben, wo sie wohnte, während ihre Eltern in einer Pension in Kampen logierten. Sie erinnerte sich nur noch an ein fremdes Gitterbett unter einem gleißenden Lichtkegel. Da war sie kaum älter als zwei Jahre alt, und sie erfuhr erst sehr viel später von einer Freundin der Mutter, dass diese schwanger gewesen war und sich eine Abtreibung auf Sylt erhofft hatte. Aber leider wurde daraus nichts und so kam der kleine Bruder doch noch lebendig auf die Welt.
Ihr zweiter, einschneidenderer Sylt-Aufenthalt (heute würde man sagen: traumatisch) dauerte jedoch sehr viel länger. Und diesmal waren die Eltern nicht dabei.
Es war an einem wunderschönen, sonnigen Hochsommertag im Juli, es fehlten nur noch drei Monate bis zu ihrem fünften Geburtstag, da fragte die Mutter sie beiläufig, ob sie mit Tante Inge und Onkel Emil, die gerade zu Besuch waren, nach Westerland fahren wollte. Warum nicht? Sie saß auf dem Rand der Regentonne, in der Weinblätter schwammen, und spielte mit den kleinen Mickeymaus-Figuren ihres großen Bruders Kindertheater. Sie war es längst gewöhnt, mit anderen Leuten mitzugehen, warum also nicht.
Auf dem Hindenburgdamm im Autozug kaufte der Onkel ihr einen Negerkuss. Es war kein gewöhnlicher Negerkuss, mit dunkler, bitterer Schokolade überzogen, wie sie ihn kannte. Nein, was sie bekam, war ein mit heller Vollmilchschokolade umhülltes Exemplar. Noch sehr viel später suchte sie lange Zeit vergeblich nach solch einem Leckerbissen.
Es war ein hübsches, kleines friesisches Reetdachhaus in der Deckerstraße, in dem sie jetzt für eine längere Zeit leben sollte. Nur dass sie das zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste.