Auf-/zuklappen

Onkel Otto

Gabyi - 2006

gewidmet meinem Onkel Otto


Um meinen alten Onkel Otto aus Hamburg ranken sich einige undokumentierte Legenden. Von zweien kann ich berichten. Die eine sagt, er wäre um ein Haar während der NS-Zeit in ein KZ gekommen - und nach der anderen soll er im 2.Weltkrieg einen Nazi umgebracht haben.
Meine Familie schweigt dazu beharrlich.
"Onkel Otto - Bilderlotto* - Onkel Otto - Bilderlotto",
so summte ich - blond gelocktes kleines Mädchen - in meinen Kindergartentagen und auch heute noch manchmal vor mich hin, wenn ich an ihn dachte. Wie um alles in der Welt kam ich nur darauf, frage ich mich manchmal verwundert. Lange Zeit schwebte mir bei der Kreation des Reimes ein memoryhaftes buntes Bilderkartenspiel vor meinen Augen, wo aufdecken, merken und wieder erkennen bunter Bildchen gefragt war, in einem Spiel à la "wer findet die richtigen Bilder zu seiner Lottotafel", welches ich als Dreijährige geschenkt bekommen hatte. Auf den farbigen Karten sah man etwa eine braune Waage mit zwei Hängeschalen vor einem grünen Hintergrund, oder einen rotkarierten Ball aber auch ein Segelschiff auf blauem Grund.
Erst viele Jahre später sollte sich noch eine weitere, bunt schillernde Erklärung herauskristallisieren.
Mein Onkel Otto war das zweitälteste Kind meiner Großmutter mütterlicherseits, welche insgesamt außer ihm und seinem Zwillingsbruder sieben Töchter gebar. Zwei Kinder überlebten das Kleinkindalter nicht, auch Ottos Zwilling war dabei.
Ich kannte Onkel Otto persönlich, hörte einiges über ihn, und werde demnächst (hoffentlich) noch mehr von ihm wissen. Er lernte den Beruf eines Schiffszimmermanns und fuhr dann zur See. Man munkelte, er hätte während des dritten Reiches jahrelang sein Heimatland nicht betreten dürfen. Warum, blieb unklar. Auf dem Hamburger Fischmarkt begegnete ihm ein bekannter Tätowierer, der ihn fotografierte** und sein Bild nebst Lebensgeschichte in einem Bildband über tätowierte Körper veröffentlichte.
Am Ende starb mein Onkel an einer Leberzirrhose infolge einer Alkoholkrankheit, die er sich zuzog, nachdem er an Bord eines Schiffes einen schweren Unfall erlitt und die Schmerzen auf hoher See mangels betäubender Medikamente mit Unmengen Alkohols behandelt werden mussten. So hieß es jedenfalls.
Meine Familie verstieß ihn und er führte fortan ein Leben am Rande der Gesellschaft, war Gast im PikAs von St.Pauli und besaß zeitweilig einen kleinen Schimpansen, den er von einer Schiffsreise aus Afrika mitgebracht hatte. Seine Verlobte hieß Elli und arbeitete als Putzfrau auf der Reeperbahn.
Meine Erinnerungen an ihn sind nur guter Natur. Er schickte uns Kindern herrliche Pakete mit Süßigkeiten in Zeiten, da meine Eltern aus Geldmangel, schwarzer Pädagogik sowie preußischen Ideale zuliebe uns so etwas strikt verwehrten. Er schenkte mir als Mitbringsel von einer Seereise ein buntes Kopftuch mit dem Aufdruck des Panamakanals, das ich später in meinem Geigenkasten zur Ummantelung der Violine nutzte. Mein großer Bruder bekam ein ausgestopftes Krokodil und eine große rosa Muschel, die, ans Ohr gehalten, uns das Meeresrauschen aus der Karibik schenkte.
Ich erinnere mich noch genau an ein Osterfest, als er uns Kindern ein Paket schickte. Es enthielt nie gesehene Süßigkeiten wie viele kleine kegelförmige Plastikbecher auf einem Stiel, mit kreisartigem Fuß in bunten Farben, mit zarter Schokolade gefüllt und winzigen Löffeln bestückt, oder verschiedenste Osterhasen, die mit dem Kopf wackelten und glitzernde Ostereierschachteln.
Und dann sandte er kurz vor seinem Tode einen traurigen Brief an meine Mutter mit der Ankündigung, meinen Großvater exhumieren lassen zu wollen wegen schwelender Erbschaftsstreitereien. Natürlich geschah nichts dergleichen.
Zu seiner eigenen Beerdigung war keiner geladen, völlig unspektakulär wurde er in unserer Familiengruft beigesetzt. Auch ich war als Kind nicht anwesend. Familienfotos von ihm existieren nicht und nun endlich fand ich ihn wieder, nach Jahren in einem Photo - Bildband über tätowierte Körper.
Meinen alten Onkel Otto - mein Sohn findet ihn cool.
Und bei mir kehrt inzwischen eine vage Erinnerung an ein kleines Mädchen zurück, das auf dem Schoß ihres Onkels sitzt und eine Erklärung auf ihre verwunderten Fragen nach seinen bunt bemalten Händen entgegennimmt.
Ein quadratisches Kärtchen aus dem Bilderlotto, das mit der doppelarmigen Waage, hat mir übrigens im Kindergarten fast das Leben gerettet. Ich stellte mir - in großer Panik - bildlich vor, dass ich mich fest an dem Gestell festklammerte, damit ich - mutterseelenallein auf dem Kinderklo sitzend - nicht ins tiefe Becken des Wasserklosetts stürzte (von Hause aus nichts als ein Töpfchen oder das hölzerne Plumpsklo gewohnt). Aber es half am Ende doch nicht.
Ich habe übrigens inzwischen Kontakt aufgenommen zu Onkel Ottos Tätowierer und erfuhr, dass er seine sämtlichen Rechte an seiner umfangreichen Fotosammlung über tätowierte Menschen durch einen dummen Fehler an eine Hamburger Galerie verloren hat und nun versucht, sie zurückzuerlangen.


* Bilderlotto - Kinderspiel mit Bildertafeln plus Karten fürs Aufdecken - Einprägen - Wiedererkennen mit Memoryeffekt
** Der Tätowierer H. begegnete vielen Modellen auf dem Hamburger Fischmarkt, z.B. dem 1905 in E. geborenen Schiffszimmermann Otto S."





Über das Gedicht

Veröffentlicht: 01.03.2007
Kategorie: Tagebuch

Link zum Gedicht

Das Reimlexikon der Lyrikecke

Träumst Du davon selbst eigene Gedichte, Song-Texte oder Raps zu verfassen, aber Dir fallen keine passenden Reime ein?

Das Reimlexikon der Lyrikecke hilft Dir beim Reimen - schnell und kostenlos.


Theorie des Schreibens


Lyrikecke bei Facebook
Lyrikecke bei Facebook