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Das Abitur - (History)

Gabyi - 2003

Das Abitur

"Euer Vater, der hat Abitur."
Immer und immer wieder hörten die Kinder diesen Satz, den ihre Mutter ihnen mit einer ganz besonderen Betonung auf der allerletzten Silbe vorzuhalten pflegte.
"AbiTUR" !!!
Ihr Gesichtsausdruck war von Stolz gekennzeichnet. Das erkannte man besonders an der hochgezogenen Oberlippe, wenn sie diesen Satz aussprach.
Als Ansporn für die Kinder sozusagen.
Für sie war Abitur etwas ganz besonders Wertvolles.
Denn sie hatte nur das Einjährige, was später Mittlere Reife hieß und sich heutzutage Realschulabschluss nennt.
Die Leute aus der Nachbarschaft hatten sogar nur einen Volksschulabschluss, was dem heutigen Hauptschulabschluss entspricht. Oder gar keinen Schulabschluss.
Aber der Vater, der hatte das sagenhafte Abitur.
Doch statt die Kinder anzuspornen, hatte die Anpreisung eher die Wirkung eines Damoklesschwertes. Denn es sollte ja so unendlich schwer zu erreichen sein. So hieß es immer wieder.
"Euer Vater ist gebildet."
Das wollte schon was heißen, wenn man in den Gassen einer Altstadt neben Fischern und Handwerkern lebte.
Von den Straßenkindern wurde er, dessen braune Baskenmütze als Unterscheidungsmerkmal den Kopf zierte, auch gern "der Professor" genannt.
Auch wenn er nur Angestellter im Finanzamt war.
Doch das war nicht seine Schuld. Nach dem Krieg gab es eben keine besseren Stellen für Heimatvertriebene wie ihn. Mit Abitur.
Aber das, das konnte ihm keiner abspenstig machen.
Auch wenn das papierene Dokument natürlich nicht mehr vorhanden oder greifbar war nach all den Kriegswirren. Wie konnte es auch.
Wo er doch jahrelang in Russland gekämpft hatte. Elitetruppe, als Funker. Privilegierte Truppe, natürlich.
Zum Glück war das einzig wirklich Schreckliche, das er in diesem Russlandfeldzug erlebt hatte, ein Granatsplitter. Dieser schlug nachts in seine Feldflasche ein, die neben seinem Brotbeutel am Bettpfosten seines Feldbettes am Kopfende hing. Von nun an war ein Loch in der Flasche und das Wasser tröpfelte unaufhörlich.
Die andere schreckliche Geschichte, die er immer wieder erzählte, war die von seinem verdorbenen Magen. Als er zu kaltes Wasser aus einem unbekannten Brunnen getrunken hatte.
Er wurde kurz vor Kriegsende von einem ihm übel gesonnenen Vorgesetzten aus Leningrad zwangsversetzt und musste dann noch schnell ein paar Peilsender in Strahlsund sprengen. Das rettete wahrscheinlich sein Leben. Auf ihrem Marsch Richtung Westen fand seine Truppe noch einen herrenlosen Säugling, der von einem Flüchtlingstreck zurückgelassen worden war.
Natürlich fand sich niemals eine Gelegenheit mehr, das Abiturzeugnis aus Ostpreußen zu retten. Wie auch, wo sich doch die Menschen in den Flüchtlingstrecks schon kaum retten konnten. Sein Vater starb auf der Flucht an Typhus und seine Mutter musste ihn eigenhändig am Straßenrand verscharren. So hatte er es berichtet.
Wer dachte da schon an Dokumente ?
Aber sein Abitur war was Besonderes gewesen. Ein humanistisches. Auf einem Humanistischen Gymnasium in Königsberg abgelegt, Griechisch und Latein als Hauptfächer.
Wer konnte nach dem Krieg schon so etwas vorweisen ? Wenn seine Kinder je diesen Abschluss schafften, wäre es nur ein minderwertiger. Bestenfalls neusprachlig oder mathematisch-naturwissenschaftlich. Aber nie altgriechisch mit Latein. Niemals.
Sein erstgeborener Sohn scheiterte schon kläglich an Latein. Auch Prügel verhalfen nicht zu dem erwünschten Ergebnis. Kein Abitur also.
Die Tochter war ja nur ein Mädchen, das zählte nicht. Beim Jüngsten sah man es nicht mehr so eng.
Bei einem Verwandtenbesuch im Elternhaus kam es zufällig ans Tageslicht.
Die Mutter besaß überhaupt gar keine Mittlere Reife.
Nur einen simplen Volksschulabschluss. Welch eine unbeschreibliche Schmach. Man stellte sie sofort zur Rede, aber es wurde abgewiegelt.
Doch es sollte noch viel schlimmer kommen.
42 Jahre später, man stelle sich nur den ungeheuren Zeitraum vor, erfuhr die Tochter zufällig von einer noch lebenden Tante, dass der Vater gar kein Abitur hatte. Überhaupt kein Abitur, unvorstellbar.
Denn vor Ausbruch des 2. Weltkrieges machte die Firma seines Vaters in Königsberg Konkurs. Ihr Vater wiederum musste das Gymnasium ein Jahr vor Abschluss verlassen, um das Familieneinkommen zu gewährleisten. Das Geld für die Ausbildung der vier Schwestern auf dem Lyzeum. Mit einer einfachen Ausbildung zum Bankkaufmann. Eine wirkliche Schande für ihn.
Noch heute ist die wahre Bezeichnung der Schulabschlüsse der Eltern ein sehr heikles Thema, das schon viel Zwietracht gesät hatte und sogar eine Ehe und eine lebenslange Freundschaft zerstörte.
Und jetzt endlich ist es geschehen, nach Pisa. Das Abitur ist endgültig und unwiederbringlich entwertet und ohne jeden Anspruch auf höhere Weihen.
Ihr Vater hatte es ja schon immer gesagt.

Nachtrag: Die Tochter schaffte Abitur/Studium/Promotion, während der jüngste Sohn Realschullehrer wurde. Richtig glücklich wurde keines der drei Kinder.
Zum hundertsten Geburtstag des Vaters berichteten eine Nichte und ein Neffe, dass sein Vater nach Kriegsende von einem russischen Soldaten in Bartenstein erschossen worden war. Kein Typhus.





Über das Gedicht

Veröffentlicht: 02.05.2016
Kategorie: Kurzgeschichten

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