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Berliner StattPläne - Das Bekenntnis der Madame Pipí

Gabyi - 2005

Franz, ein junger Mann Ende dreißig, wurde ungewollt Zeuge einer Begebenheit, wie an einem dunklen Mittwochabend kurz vor Weihnachten, genaugenommen exakt zur Wintersonnenwende, eine unbescholtene junge Frau während eines Einkaufgetümmels im Berliner KaDeWe abhanden kam.

Sie wollten beide nach Feierabend kurz nach halb sieben noch schnell die letzten Einkäufe fürs Fest gemeinsam erledigen. Er hatte sich breitschlagen lassen, an diesem Tag einmal auf die obligatorischen Überstunden zu verzichten - auf ihre inständigen Bitten hin. Im letzten Jahr hatte es wirklich überhand genommen, denn die angespannte wirtschaftliche Situation ließ ihn nicht zur Ruhe kommen.

Franz, der ebenfalls an diesem Abend im besagten Kaufhaus einkaufte, hatte sich gerade geduldig in der Schlange an der Sammelkasse im obersten Stockwerk eingereiht, um sich die Mehrwertsteuer erstatten zu lassen. Irgendetwas war anders als sonst, eine unterschwellige Unruhe lag in der Luft. Aus dem Lautsprecher ertönte eine Ansage. Es war die gleiche, welche er schon beim Betreten des Kaufhauses wahrgenommen hatte:
"Gesucht wird Frau von Instetten. Frau von Instetten, bitte umgehend beim Informationsstand an der Sammelkasse in der 6.Etage melden! Ihr Mann wartet dort im 5. Stock auf sie".

Ein blau uniformierter Mann redete hinter dem Kassentresen im Servicebereich beschwichtigend auf einen elegant gekleideten, etwa vierzigjährigen dunkelhaarigen Herrn ein:
"In unserem Haus hat sich bisher noch jedes Verschwinden am Ende aufgeklärt und eine Entführung, so was hatten wir bisher noch nie".
Franz musste sofort an die unzähligen Male denken, als sein Sohn in Kaufhäusern verschwunden und am Ende wieder aufgetaucht war. Mehrmals ließen er oder seine Frau das Kind auch ausrufen, einmal fand seine Frau es auf der Straße vorm Kaufhaus, wo es sich einer kinderreichen Familie angeschlossen hatte und gerade an der Fußgängerampel die Straße überqueren wollte.
Aber dieser Fall, der war anscheinend etwas anders gelagert.

"Sie wurde entführt, da bin ich mir ganz sicher!", stieß der Mann hervor.
"Sie ist noch nie - niemals von meiner Seite gewichen, und ihr Handy, das reagiert überhaupt nicht. Seit fast einer Stunde ist sie wie vom Erdboden verschluckt, sie muss einfach entführt worden sein".
Jemand brachte ein Glas Wasser herbei und ein anderer ein Kissen für den Stuhl. Die Gucci-Krawatte des Mannes warf leichte Falten und sein aufgeknöpfter Mantel hing etwas schräg über dem ansonsten durchtrainierten Körper. Er wischte sich mit dem braungebrannten Handrücken über die feuchte Stirn.

Ein Raunen und Murmeln ging durch die Kassenschlange.
"Sowas haben wir schon öfter gehabt", sagte die Kassiererin und blickte in die Runde "aber noch immer ist's gut ausgegangen...",
und während sie weiter die Eurobeträge in die Kasse eintrommelte, eilte eine ältere Frau mit grauer Kittelschürze zum Tresen hin und wedelte mit einem weißen Blatt Papier.
"Sie lebt, sie lebt und ist n i c h t entführt. Das hier hat sie bei mir abgegeben".
Und in Windeseile wurde der Zettel weitergereicht an den Mann hinter dem Kassentresen mit der Gucci-Seidenkrawatte, auf der sich kleine Rauten unregelmäßig auf gedecktem Grund eng aneinander pressten. Er senkte seinen Blick hinab zum Papier, las den Zettel und murmelte leise:
"Verlassen - ich bin verlassen worden. Meine Steffi, einfach so, für immer fort...".
Die Toilettenfrau beugte sich diskret über den Tresen, schaute voller Mitgefühl an dem Mann auf dem Stuhl hinunter und sagte noch leiser, kaum hörbar:
"Sie hat ihn mir vor etwa einer Stunde gegeben und mich angefleht, ihn um diese Uhrzeit an der Sammelkasse zu hinterlassen. Einen Schal aus Seide hat sie mir auch noch geschenkt und geflüstert, dass sie jetzt ein neues Leben beginnt".

Und Franz, der ganz zufällig und völlig unbeabsichtigt Zeuge des Vorfalls geworden war, hatte plötzlich das Bild einer wertvoll gestylten, gepflegten Frau vor Augen, die mit Tränen im Gesicht einen letzten Stapel luxuriöser Strumpfhosen erstanden hatte, bevor sie zu ihrem Liebhaber zog. Und während er noch überlegte, für welchen Kunden noch ein Weihnachtspräsent fehlte, nahm er sich ganz fest vor, von nun an etwas besser auf seine Beziehung aufzupassen.



aus "Berliner StattPläne"





Über das Gedicht

Veröffentlicht: 23.12.2005
Kategorie: Kurzgeschichten

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