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Berliner StattPläne - Stadt der Barbaren

Gabyi - 2007

Berlin - Stadt der Barbaren

Ein wahrhaft barbarischer Ort, an dem ich lebe. Eine Stadt, von Barbaren bevölkert, unwirtlich und öde. Die Steppe Sibiriens ist purer Stil und Etikette dagegen.
Ungezählte Jahre lebe ich schon hier und endlich hat es eine bunte Horde Journalisten auf den Punkt gebracht, was ich schon immer geahnt hatte: meine Stadt ist dreckig, ungehobelt und völlig ohne Manieren und Niveau. Doch neuerdings nisten in meiner Metropole auch noch die Maden. Das geschah ungefähr zeitgleich und seitdem sie zur Hauptstadt ausgerufen wurde.
Komfortabel fand ich es ja noch nie hier, aber ich wollte es auch nicht anders haben. Als dann nach Jahren der Barbarei endlich die Rheinländer aus der Provinz hierher kamen mit ihren Gefolgschaften von Trittbrettfahrern, wurden alle Wege für sie geebnet. Wissen sie es denn gar nicht ? Unendliche Mengen von Verkehrsschildern wurden eigens für sie aufgestellt, auf dass sie sich nicht verirren mussten in der großen Stadt, die U-Bahn-Schilder wurden auch für Analphabeten lesbar gestaltet und bis dato jahrzehntelang geduldete Penner in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aus ihren angestammten Parkanlagen und Plätzen entfernt und mit Wannen an den Stadtrand gekarrt. Soviel zum Thema Sauberkeit und Ordnung.
Früher war diese Stadt so ausgelegt, dass jeder auch nur durchschnittlich intelligente Zugereiste sich mühelos selbständig zurechtfand und sich einen Pfad durch das Dickicht der Dienstleistungswüste schlagen konnte, durch Schusterjungen, Schrippen und Pfannkuchenberge. Die schnoddrige Schnauze dabei wurde billigend in Kauf genommen als regionale Besonderheit mit hohem Wiedererkennungswert und manchmal sogar als Charme gedeutet..
Doch plötzlich gab es eine neue Spezies in meinem Kiez, die es vorher noch nicht gegeben hatte: Männer in Anzügen und Krawatten (!), junge und auch ältere. Oft mit blauen Oberhemden unter dem Jackett und einer etwas rundlich-spießigen Ehefrau an der Seite inklusive adrett gekleideter Kinder, oft in Matrosenanzügen. Ungewöhnlich war es schon und auch irgendwie beunruhigend.
Die Bonner waren gekommen !
So viel satte Gutbürgerlichkeit, wer hätte noch an so etwas gedacht nach all den vielen Jahren des Kleinbürgertums, aber auch des Laissez-Faire ?
Um dem Geschichtsbewusstsein etwas auf die Sprünge zu helfen: Meine Stadt war mehr als 40 Jahre lang Frontstadt des kalten Krieges und ihre Bewohner hielten ihr jahrzehntelang tapfer und treu die Stellung, wo sich die Westdeutschen schon in die Hose machten beim Durchqueren der "Ostzone", aus Angst vor den Vopos, und einen Besuch in der Stadt oft gar nicht erst wagten. Diese Umstände für sich allein genommen wären schon Grund genug gewesen, um eine, sagen wir mal, hartgesottene Mentalität der Inselbewohner zu rechtfertigen.
Und dann fielen also die verpimperten Schicki-Micki-Exemplare in diesen Ort ein, in diese Stadt mit einer der höchsten Arbeitslosenquoten der Bundesrepublik, und sie meinten tatsächlich noch eine wohlgeordnete, gesittete und weichgespülte Metropole vorfinden zu müssen ? Welch eine utopistische, realitätsferne Erwartung.
Die zitierten Journalisten, die sich so schwer tun beim Eingliedern oder Anpassen haben offenkundig ein handfestes Problem bei der sozio-kulturellen Integration in die Ureinwohnerkultur dieser Stadt. Wirft man dieses nicht auch gern manchem Ausländer vor, der nach Deutschland emigrierte ?
Und das Allertraurigste ist die sich selbst erfüllende Prophezeiung der Medien in den neunziger Jahren, dass es schon bald keine echten Berliner mehr geben würde. Das hatte fast schon die Qualität einer herbei geredeten Völkervertreibung.
- September 2003

Vier Jahre später
Und jetzt, vier Jahre später, sind noch mehr Menschen aus Berlin abgewandert. Neue sind dazugekommen, unter Anderem auch aus Hollywood. Nicht jeden begeistert das. Die Arbeitslosigkeit ist nach wie vor sensationell hoch und die Kinderarmut hat weiter zugenommen. Viele verwahrloste Kinder wurden aufgefunden, ermordete auch, und der Bürgermeister hat inzwischen erkannt: Berlin ist sexy. In Neukölln regieren das Prekariat und die Slums und ein neuer Hauptbahnhof entstand. In Steglitz wurde das Schloss eröffnet, am Alex eine riesige Mall und mein ehemaliger Vorgesetzter hat gerade den Nobelpreis in Chemie bekommen.
Eliten formieren sich und nach wie vor kassieren die noblen Nutznießer des Berliner Bankenskandals horrend hohe Zinsen, für welche der Steuerzahler gerade stehen muss. Im berühmtesten Kaufhaus Berlins kaufen fast nur noch Promis und die Immobilienpreise wurden hochgesetzt. Eine pummelige Pastorentochter und gelernte Physikerin wälzt sich über den Boulevard "Unter den Linden", in TV-Talkrunden raisoniert man über die (Un)vereinbarkeit von Kind, Karriere und Autobahnen und am Hohenzollerndamm ist letztes Jahr ein Verteilerkasten explodiert.

Oktober 2007





Über das Gedicht

Veröffentlicht: 15.10.2007
Kategorie: Satire & Parodie

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