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Noorgrund - (Tod am Noor) - History

Gabyi - 2003

Tod am Noor


>> Denn am Grunde des Noores tummeln sich kleine Krebse, Mückenlarven, Würmer und Herzmuscheln <<


Vom Bahnübergang gelangte man zum "Noor" über einen schmalen Weg, der mit Krüppelweiden gesäumt war. Dunkelbizarr und anklagend ragten die missgestalteten, schwarzbraunen Baumstämme in den Abendhimmel hinein, der düster und grau verhangen über dem angrenzenden See aus Brackwasser lastete. Ein Ort, an dem selbst die fahle Mondsichel sich zu schade war, in seinen dunklen Wassern gespiegelt zu werden.

Sobald sie diesen einsamen Weidenweg aus Lehm beschritten hatte, geschah es wieder. Ihr Gang nahm sofort diese schleppende Form an, die jeden weiteren Schritt zu einer schmerzvollen Qual werden ließ. Eine unendliche Mattigkeit des Körpers sowie des Gemütes hatte schon lange vorher von ihr Besitz ergriffen.

Vorbei an den zwei Bahnhofsgleisen, hinter denen ein alter Bahnhof aus dunklen, schmutziggraugelben Ziegelsteinen zu sehen war, führte der Weg sie weiter an den traurigen Weiden entlang. Hier war sie oft als kleines Kind ganz allein ein- und ausgestiegen mit und ohne Abholen, auch in der Bahnhofsmission war sie schon einmal gelandet und hatte dort eine Schnitte Brot, bestreut mit Salz, angeboten bekommen.

Sie schleppte sich weiter, vorbei an ihrem alten Gymnasium*, das hinter den Gleisen liegend in etwa hundert Metern Entfernung zwischen den Weiden sichtbar wurde. Das düstere Backsteingemäuer nahm wieder die bedrohliche Gestalt ihrer Kindheit an, als in dem Gebäude ihr und ihrem großen Bruder als Kinder noch unerträgliche Ungerechtigkeiten und Misshandlungen widerfahren mussten. Während ihrer Schulzeit an diesem Institut hatten sich mindestens zwei Personen einfach umgebracht, ein Schüler und ein Lehrer. Die wahren Beweggründe und die näheren Umstände blieben für sie im Dunkeln. Jetzt lugte der Bau nur noch von Weitem zwischen den Weiden hervor, obwohl hervorlugen für ihr Empfinden ein viel zu unverfängliches und harmloses Wort gewesen wäre und es nicht verdient hätte, dergestalt missbraucht zu werden.

Nur schnell, ganz schnell fort von hier, wenn auch die Füße so schwer wie Blei wiegen.


>> Denn am Grunde des Noores tummeln sich kleine Krebse, Mückenlarven, Würmer und Herzmuscheln <<


In ihren Gedanken wandelte sich das Blei ihrer Füssse schnell zu Quecksilber, das noch viel schwerer als Blei wog, aber immerhin benannt nach der leichtfüßigen römischen Gottheit des Handels Merkur (Mercury) und sich auch sonst eher quirlig von seinen metallischen Eigenschaften her verhielt. Ihr Schritttempo beschleunigte sich allmählich.

Und endlich, endlich erreichte sie das nahe Gewässer. Ein abgetrenntes Stück Brackwasser der Ostsee, das größte dieser Art im gesamten Bundesland. Früher wurden hier noch Abwässer hineingeleitet, man erkannte es an den übelriechengen Schäumen an manchen Stellen des Ufers. Dennoch gab es Fische hier, wie Zander, Aale, Maränen, Karpfen, Brassen oder Plötze und es gab auch einen Noorfischer.


>> Denn am Grunde des Noores tummeln sich kleine Krebse, Mückenlarven, Würmer und Herzmuscheln <<


Am Ufer wogte das meterhohe Schilf im Winde so heimlich wispernd und raschelnd.
Und weiter führte der Weg sie hier entlang an einer alten Metall verarbeitenden Hütte vorbei, wo spiralförmige Metallspänen nutzlos in getrockneten Pfützen lungerten, die nur bei Sonnenschein buntschillernd rot und blau leuchteten. Bei gleißender Sonne überkam sie damals an diesem Ort mehr als einmal ein beklemmend fahles Gefühl von unbestimmter Übelkeit, ein Unwohlsein, beinahe mit namenloser Angst vergleichbar. Sogar die zarten, grünschimmernde Libellen mit ihren uralten, blaugrünen metallisch glänzenden Körpern und den blauen Flügeln erstarrten in solchen Momenten in ihrem Fluge.

Jetzt aber liefen mehrere Schwäne mit ihren Jungtieren durch den Ufersand und plusterten bedrohlich ihre Gefieder auf, wohlgemästet vom "Schwanenvater" und angsteinflößend selbstbewusst. Dieser alte Mann päppelte die Tiere seit Jahren mit altem Brot auf, das er von den Bäckereien mit seinem alten Fahrad abholte. Als Schülerin begegnete sie ihm oft auf dem Schulweg und sagte einmal zu ihrem Bruder:

"Das Brot ist verschimmelt, guck mal, igittigitt !"

Niemals mehr wird sie seine, im Nachhinein fast orakelhafte, Antwort vergessen:

"Verschimmelt ist nicht das Brot, verschimmelt ist dein Gehirn !"

Es verfolgt sie noch heute.

Ob es die alte Badeanstalt an der anderen Seite des Sees noch gab, konnte sie jetzt nicht mehr feststellen, da die Dunkelheit angebrochen war und die Sicht sehr schlecht wurde. Die tiefste Stelle des Noores betrug 13 Meter, der Salzgehalt 0,3 Promille und sie kannte die Stelle nicht mehr, an der ihr Vater den Mann in den See versenkt hatte. Dass sie direkt daneben stand, als er ihn mit dem Kamerastativ an die Schläfe schlug und dieser dann in sich zusammen sackte, daran erinnerte sie sich plötzlich genau. Und dass sie dem Vater versprochen hatte, keiner Menschenseele etwas davon zu erzählen, das wusste sie jetzt auch wieder, als wäre es erst gestern gewesen.

"Keinem einzigen, hörst du ? Auch nicht deiner Mutter ! Kein Wort !"

Aber die Stelle am Ufer, an der es geschah, die hatte sie nie mehr wieder gefunden. Nur in ihren Alpträumen kehrte sie noch dorthin zurück. Winter war es dann und das Noor taute gerade wieder aus einer eisigen Erstarrung auf. Hier, wo sie im Sommer wie im Winter mit dem Vater spazieren gehen musste, weil ihn das Gewässer an seine verlorene Heimat erinnerte.

Jetzt, wo das Eis taute, würden sie ihn alle sehen. Nun weiß es bald jeder und die Strafe kommt, kein Entrinnen gibt es mehr. Niemals wird sie dieses würgende, beklemmend reale Gefühl vergessen von Ekel, Mitschuld und grenzenloser Angst, das sie ungefiltert und gnadenlos durchbohrte.

Weil der tote Mann davon gewusst hatte. Er wusste alles, kannte die ganze Wahrheit. Die Wahrheit darüber, dass der Vater kein Abitur hatte. So wie er es nach dem Krieg fälschlich vorgegeben hatte, um doch noch einen Studienplatz an der Uni zu erlangen... weil das Abiturzeugnis auf der Flucht aus Ostpreußen doch nicht verloren gegangen war... weil es nämlich gar nicht existierte... weil der Vater vor dem Kriege ein Jahr vor dem Abschluss die Schule verlassen musste, aus Geldnot... weil das Schulgeld und die Schulbücher damals nicht mehr bezahlbar waren... weil der Vater des Vaters für seinen insolventen Bruder eine Bürgschaft geleistet hatte...

Doch das alles sollte sie erst viele, viele Jahre später erfahren. Manchmal allerdings ist sie sich nicht mehr ganz so sicher, ob vielleicht doch nur ihre überschäumende Phantasie mit ihr durchgegangen war. Jetzt, wo überall zu hören und zu lesen ist, welche Schönheit und Romantik von den weißen Schwänen ausgehen soll. Und ganz besonders jetzt, wo sie plötzlich in der Zeitung lesen muss:


>> Auf dem Noorgrund tost das Leben - denn am Grund des Noores tummeln sich kleine Krebse, Mückenlarven, Würmer und Herzmuscheln <<

Und neuerdings, seitdem der Schwanenvater nicht mehr lebt, haben sich die Schwäne ein neues Revier gesucht. Kommen jetzt die Seerosen zu den zart blaugrün schimmernden Libellen? Und war nicht vielleicht die Schwanenfamilie auch nur ein eine trügerische Erscheinung ?




* Ein in ihrer kleinen Literaturgeschichte stehender Dichter hatte früher an dieser Schule unterrichtet und ihre Lehrerin, eine seiner Schülerinnen, kam unter anderem Namen in einem seiner Romane vor. Sie selber besuchte ihn manchmal mit seiner Enkeltochter. Er erzählte ihnen dann kleine, traurige Geschichten.





Über das Gedicht

Veröffentlicht: 12.12.2015
Kategorie: Kurzgeschichten

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