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das blutorangerote Morgengrauen - (Baracken)

Gabyi - 2003

Das blutorangerote Morgengrauen - (Baracken)


"Komm'' schnell, das Noorlager brennt. Steh' auf, mein Kind, beeil' dich."

Gibt es das - ein rotes Morgengrauen ?
Oder eigentlich sollte es sogar blutrot sein oder, noch besser, blutorangerot. Nein, ich bin nicht überspannt oder gar verrückt, ich versuche nur, eine Sinneswahrnehmung mit dem dazu passenden Begriff zu verbinden. Das heißt, ich suche nach dem Wort, das meinen Eindruck angemessen und treffend beschreibt und in Szene setzen kann. Doch ich scheiterte schon, bevor das Wort auf dem Papier stand. Denn was ich an einem frühen Sommermorgen am Himmel sah, war ein glühendroter Sonnenaufgang, gleichzeitig geschah es aber auch im Morgengrauen. Und die Szenerie war von einer schwermütigen Traurigkeit umfangen.
Wie kann denn ein Morgengrauen gleichzeitig rot und grau sein, fragte ich mich. Und doch war es in meiner Erinnerung genau so gewesen.
Es war der Morgen, der auf die Nacht folgte, in der mein Vater mich aus meinem Kinderbett holte, um mir ein Naturschauspiel zu zeigen.
"Steh' auf, mein Kind, das Noor-Lager brennt. Das muss man einfach gesehem haben".
Gemeint war eines von mehreren Flüchtlingslagern mit Vertriebenen aus den verlorenen Ostgebieten nach dem 2.Weltkrieg. Dort lebten die Menschen unter unwürdigen Bedingungen in niedrigen, dunkelroten Holzbaracken. Hier fanden sie nach Kriegsende ihre erste und vorübergende Zuflucht, bevor dann am Ende das Lager in einer schwülen Sommernacht lichterloh) in Flammen aufging. Dazwischen lagen lange Jahre des stillen Martyriums, der Trauer, Ausgrenzung, Armut und der Entbehrung.
Säuglinge, die in Wäschekörben und Kommodenschubladen ihre ersten Monate verbrachten und streng riechende Kinder, die mit einer dunklen Borke von Schmutz und Staub überzogen waren, konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier fast unbemerkt eine unausgesprochene und unsägliche Unngerechtigkeit stattfand. Auch in meiner Schulklasse gab es diese Kinder.
Unwillig drehte ich mich auf die andere Seite des Bettes und murmelte:
"Müde, will schlafen."
Es war noch ganz früh am Morgen und die Sonne war noch nicht aufgegangen. Doch es half alles nicht, ich musste aufstehen, und schlaftrunken machte ich mich mit dem Vater auf den weiten Weg.
Doch als wir endlich am Lager ankamen, es ging gerade die Sonne auf, da waren im blutorangeroten Morgengrauen nur noch die schlammigen Pfützen der Löschzüge zu sehen. Sie verteilten sich nutzlos im morastigen Erdreich, auf dem das Lager stand. Gestanden hatte, denn die roten Baracken waren jetzt nur noch schwarze, verkohlte Ruinen aus abgebrannten Holzgerippen und von den Menschen fehlte jede Spur. Ob sie in ein Krankenhaus gebracht worden waren, das interessierte hier keinen und das konnte mir auch niemand sagen. Einzig die nasskalt kühle Morgenluft ließ mich fröstelnd und allein am Rande des Geschehens dastehen.
Ganz in der Nähe befand sich ein Bahnübergang und nicht weit entfernt davon lag ein abgetrenntes Stück Brackwasser der Ostsee, ein stehendes Gewässer, ein Noor. Nur noch die blaugrün geflügelten Libellen über dem See hätten mir vielleicht die wahre Geschichte erzählen können. Aber sie waren verstummt und standen wie erstarrt über dem braunen Wasser...
Und wieder komme ich auf meine alte Frage zurück: gibt es das, ein rotes Morgengrauen? Und meine Antwort lautet jetzt: in der Wirklichkeit ohne Zweifel, aber niemals kann und wird man es in Worte fassen. Nur eine alte Bauernregel sagt noch:
"Morgenrot - Schlechtwetter droht; Abendrot - Gutwetterbot."
Aber ein blutorangerotes Morgengrauen? Nein, so etwas darf es nicht geben.

(C)2003





Über das Gedicht

Veröffentlicht: 16.02.2013
Kategorie: Kurzgeschichten

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