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Das alte Haus

Gabyi - 2003

Mein altes Haus, wo ich einst schritt
auf engen Wendeltreppen, Stiegen
und durch verwunschene Remisen
auf Kopfsteinpflasters Taubenschitt
Das Taubenhaus im Sturm schwang mit

Auf Höfen staubiggrau verwittert
ging ich so manchen fahlen Gang
voll Angst. Wo Mensch und Tier erzittert
vor dunkler Gänge Schlammeskuhlen
und Erbschleicher verschlagen buhlen

Das war mein Haus, als ich dort schritt
und all die anderen schritten mit
Als dann am Ende Schnitter kam
und jäh das Beste mit sich nahm
war es das Haus, das Schmerzen litt




Ihr Geburtshaus war alt. Alt und geheimnisvoll. Als sie geboren wurde, war es schon lange weit über zweihundert Jahre älter als sie. So sagte man es ihr jedenfalls, wenn immer man mit ihr über das Haus ihrer Großeltern sprach, in dem sie einen großen Teil ihrer Kindheit erlebte.

Zwei Haupteingänge besaß das Haus. Einen Eingang zur vorderen Straße mit drei weiteren Nebentüren und einen Hintereingang zur hinteren Gasse, die sich - nicht ganz passend - Rosengang nannte. Hier betrat man das Grundstück durch eine hölzerne, grünabgeblätterte Pforte und gelangte auf den Hof des Grundstücks und zur Malerwerkstatt.

Viele kleine und größere Zimmer und Kammern verteilten sich im Haus, zwei Küchen und ein Waschraum, verbunden über enge, steile Treppenstiegen und verwinkelte Dielen. Über allem breiteten sich mehrere verwunschene Dachböden und staubige Remisen aus, die nur über steile hölzerne Stiegen zu erklimmen waren. Und wenn die Nachmittagssonne ihr fahles Licht durch das schräge Dachfenster warf, tanzten auf dem hinteren Flur im ersten Geschoss die magischen Staubkörnchen über der Treppe. Das alles machte den ganz eigenwilligen und gleichzeitig höchst morbiden Charme des alten Hauses aus, in dem sie ihre allerersten Jahre verbrachte.

Ein großer und ein kleiner Hof gehörte ebenso dazu wie ein Taubenschlag (inklusive Tauben), der bei der großen Sturmflut 1962 leider vom Dach gefegt wurde. Genauer betrachtet handelte es sich bei den Höfen um Hinterhöfe. Doch dieses Wort wurde niemals ausgesprochen. Hof hieß es. Kleiner Hof und großer Hof. Als gehörten die Höfe zu einem Schloss. Es gab auch eine Waschküche samt steinernem Waschkessel sowie eine hübsche kleine Wasserpumpe, grünlich und mit Pumpenschwängel. Und nicht zu vergessen das hölzerne Plumpsklo mit dem ausgesägten Loch in der Türmitte. Es stand in der Ecke des größeren Hofes, der mit uraltem Kopfsteinpflaster bestückt war. Die Kinder sagten auch Klöppelsteinpflaster dazu und die Steine waren über und über mit weißlichem Taubendreck und Taubenfedern bedeckt. Immerhin waren die bröckelnden Mauern des großen Hofes stellenweise mit wilden Weinranken bewachsen. Während auf dem kleinen Hof eine große, ausgewachsene Regentonne stand, in welche das Rohr einer Regenrinne einmündete und in die ihr Teddy aus dem Fenster stürzte, stillte auf dem großen Hof ein kleines, flaches Tonnensegment den Durst der Tauben. Was den Hunger der Vögel anbetraf, so ging sie als kleines Mädchen oft zum Getreidesilo, um einen Sack voller Taubenfutter zu holen, das war getrockneter Mais, 10 Pfund genau. Die Körner wurden in ein Holzfass gefüllt, das auf dem Flur neben der Hoftür stand. Einmal am Tag ging der Großvater dorthin, füllte einen Blechnapf voll, klopfte ihn scheppernd auf die Fensterbank wie einen Essensgong und schüttete den Inhalt in hohem Bogen über den gesamten Hof hinweg. Plump und lärmend flatterten die Tiere vom Dach zum Erdboden, immer von staubaufwirbelnden Federverlusten begleitet. Heute sagt man Ratten der Lüfte.

Der kleine Hof verband die Waschküche mit der Werkstatt. Außer der Regentonne stand hier nur ein hölzerner Kohlenverschlag, in dem gestapelte Briketts und ein Berg mit Eierkohlen für den Winter eingelagert wurden. Eine Malerwerkstätte, ein kleines Zahntechnikerlabor sowie ein größeres Lagerhaus zählten ebenfalls zum Grundstück und waren von ihrem Großvater zu einem lächerlich geringfügigen Mietzins verpachtet worden. Denn ihr Opa war kein guter Geschäftsmann und ihr Vater noch viel weniger und zudem erlaubte die Lage des Grundstückes zum damaligen Zeitpunkt kaum höhere Renditen. Denn die Straße war zu dieser Zeit noch nicht an die städtische Kanalisation angeschlossen. Das Haus besaß jedoch den - früher leider noch unerkannten - Vorzug, in der Altstadt und gleichzeitig im Zentrum einer alten Hafen- und Fischerstadt zu stehen, die später allmählich zum beliebten Kurort mutierte.

Im Sommer, wenn die Sonne hoch am blau-weißen Himmel stand, saßen auf der Straße nah am Rinnstein oft die Bauschüler der angesehenen Bauschule auf kleinen Holzhockern. Sie zeichneten Skizzen der denkmalverdächtigen Fischer-Katen mit ihren geringen Traufhöhen und der Handwerkerhäuser mit stolzen Giebeln vom Original ab, Kopien sozusagen. Ihr altes Haus wurde häufig zum Gegenstand solch architektonischer Zeichenkunst, doch niemals durfte sie auch nur einen Blick auf das Werk erhaschen. Heute würde sie, wenn ihr das Haus gehörte, Copyrightansprüche stellen und zumindest eine Kopie des Kunstwerks einfordern. Doch heute gehört das Haus ihrer Familie schon lange nicht mehr.

Es war ein großes Haus, aber es war auch ungewartet und verfallen, fast könnte man es schon verwahrlost nennen. Zumindest gebrechlich war für seinen Zustand ein passendes Wort, genau wie für den Großvater. Oder auch einfach verwittert. Die morsche braune Farbe bröckelte an Fenstern und Türen und schon lange wäre ein Außenanstrich fällig gewesen. Zumal ihr Großvater Malermeister mit eigenem Werkstattbetrieb war, doch jetzt war er zu alt und schwach und Geld war auch nicht mehr genug vorhanden. Seine kleine Rente reichte gerade, das Kostgeld an seine Tochter zu zahlen. Der Rest wurde in Geschenke an seine zahllosen Enkel und Urenkel investiert. Immerhin diente ein Blockwagen aus Holz mit vier Rädern dem Großvater als bescheidener Luxus, auf den er stolz sein konnte. Der Wagen wurde zum Transport von Taubendreck, Pferdemist und zum Düngen eines gepachteten Gartens genutzt, ebenso für die Beschaffung von Taubenfutter. Später wurde er leider gestohlen.

Am Ende dann - und das kam sehr schnell - nachdem ihr Großvater gestorben war, wurde das alte Haus für einen Hungerlohn weit unter seinem Wert verkauft. Sehr bald darauf schon war es ein Vielfaches des erzielten Preises wert. Noch heute erfüllt es sie mit tiefer Trauer, wenn immer sie darüber nachdenkt. Auch deswegen, weil sie noch nicht einmal eine Fotografie des Hauses besitzt. Doch wenn sie heute allein nur den einzigartigen Straßennamen bei GOOGLE in die Suchmaschine eingibt, kann sie sich ohne Weiteres eine Vielzahl von Fotos der restaurierten Altstadt und ihrer Straße ansehen und auf ihre Festplatte kopieren. Nur ihr altes Haus, das hat sie bis heute noch nicht gefunden.

Und so kreisen die Gedanken immer weiter und weiter unaufhaltsam in ihrem Kopfe auf und ab durch die verwunschenen Höfe und über die verfallenen Stiegen, immer im Kreise von unten nach oben hoch und nieder bis an das Ende ihrer verwitterten Tage und verwunschenen Nächte.


Nachtrag:
Endlich nach vielen Jahren ging sie wieder einmal in die Altstadt, um Fotos zu machen. Ihr Vater, einst ein fleißiger und talentierter Hobby-Fotograf, hatte ihr nicht ein einziges Bild des Hauses geben können. Nun stand sie vor dem Gebäude, das sich ihr kitschig gelb und unfachmännisch angestrichen darbot. Doch nichts hatte sich ansonsten geändert. Eine ältere Frau riss ein altes Fenster auf und schrie:
"Was wollen Sie denn hier ? Hier gibt es nichts zu fotografieren !"
Und nun hat sie ihr Haus auch endlich bei GOOGLE entdeckt.





Über das Gedicht

Veröffentlicht: 17.05.2007
Kategorie: Kurzgeschichten

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