Verwitterte Brunnenränder

Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis der Brunnen bricht.
Oder war es nicht der Krug, der bricht ? Ich weiß es nicht. Noch nicht.

Ich weiß nur, ich muss das Wasser aus dem alten, verwitterten Friedhofsbrunnen für unser Grab holen, weil meine Mutter die Blumen gießen will. Die blauen Astern, die rosa Nelken, die gelben und blauen Stiefmütterchen und die weißen Chrysanthemen. Meine Oma ist letztens gestorben. Als sie starb, soll sich ein riesiger Blutschwall aus ihrem Mund über das Krankenbett ergossen haben. Als ich danach auf dem Fußboden des großelterlichen Schlafzimmers saß, war die Matraze rot-orange gestreift ohne Laken und die Bettdecken dunkelrot statt weiß bezogen. Hoffentlich lebt mein Opa - er hat nun sein eigenes Bett - noch etwas länger.

Tropf, tropf, tropf, so murmelt der Brunnen, so plätschert es an meinem Ohr vorbei. Das Wasser rinnt und rinnt und rinnt, unentwegt und unermüdlich ewig. Denn immer und immer tropft der rostige Wasserhahn, weil keiner es wagt, ihn abzudrehen. Und das murmelnde Wasser läuft über die verwitterten Ränder hinunter zur Erde und versinkt ins dunkle Reich der Toten.

Kristallklare Klänge eines Springbrunnens aus des Sultans Gartens sprudelnden Quellen, unterirdische Zisternen rauschen so fern und doch so nah an meinem Ohr entlang. Die säuselnden Lüfte über dem See mit Seerosen bedeckt streicheln mein Gesicht so zart und Schwertlilien und Orchideen breiten sich vor meinen Augen aus. Ich sinke hinab in die Tiefen der ewigen Zisterne und mein gefallener Engel ist bei mir und begleitet mich ins Reich der Toten zu den gestorbenen Kindern in den weißschimmernden Kindersärgen voller Blumen und mit traurigen Teddybären gefüllt.

"Leb' wohl mein Brunnen, bis zum nächsten Mal."
Vielleicht dann aber vor dem Tor ?


aus: "Zwischen Schlachthof und Soldatenfriedhof"