Auf-/zuklappen

Der vergessene Dichter

Gabyi - 2005

Der vergessene Dichter oder Die wohlgeratenen Tadellosen

Ein in meiner kleinen, blauen Literaturgeschichte (von Klett) stehender Dichter hatte einmal an meinem Gymnasium unterrichtet, doch lange vor meiner Zeit. Meine Deutschlehrerin war eine seiner Schülerinnen gewesen und kam - natürlich unter anderem Namen - in einem seiner Romane vor. Als Kind besuchte ich ihn oft und gern zusammen mit meiner besten Freundin, die seine Enkelin und Tochter meiner Patentante war. Er erzählte uns manchmal kleine, traurige Geschichten.  Er wohnte mit seiner Frau nur eine Straße weiter von der Freundin entfernt in einem kleinen Einfamilienhaus am Rande der Kleinstadt. Wir trafen die beiden Alten oft, die von ihren Enkeln auch "Mum und Gog" genannt wurden, um Äpfel im Garten zu pflücken oder um kleine Geschichten zu hören. Und im Sommer schenkte Gog uns bisweilen einen Korb voller frisch gepflückter Äpfel auf der Veranda seines Gartens. Sie hießen "Roter Boskoop" oder waren eine der köstlichen alten Sorten, die heute nicht die EU-Norm erfüllen würden und nicht mehr in Obstläden verkauft werden.
Der Vorschlag, mein Gymnasium nach dem Dichter zu benennen, wurde von der Stadt damals, als ich dort Schülerin war, abgelehnt. Dass er dort viele Jahre als Studienrat unterrichtet hatte, spielte keine Rolle bei der Entscheidung, genauso wenig wie seine kulturellen Verdienste durch sein literarisches Schaffen ins Gewicht fielen. Eine Steigerung des Ansehens der kleinen Gemeinde blieb ebenfalls unbeachtet. Zusammen mit Robert Musil war ihm 1923 von Döblin der Kleist-Preis zuerkannt worden. Die Stadtväter zogen es vor, den ursprünglichen Namen der Schule zu belassen - nach einem Hauptmann der Schleswig-Holsteinischen Armee, der schon frühzeitig die Militärlaufbahn in der preußischen Armee eingeschlagen hatte.
War es eine gewisse Art von Geringschätzung, die vielen Künstlern damals entgegengebracht wurde, welche ihr "Vaterland verraten" haben sollten ? Er soll ein Überläufer gewesen sein, was er auch in einem seiner Romane thematisiert hatte. Ich aber - zu meiner Schande - wusste noch nicht einmal genau, in welchem Krieg das gewesen war. Meine Eltern hatten anlässlich seines Jubiläum-Geburtstages die gesammelten Werke erhalten. Es lag sogar noch eine Original-Handschrift von ihm darin - "An meinen Sohn".
In meiner Schule gab es hin und wieder Pflichtveranstaltungen zu seinen Ehren, doch selten oder so gut wie nie war in meinem Unterricht seine Literatur, die durch ungewöhnliche Natur-Lyrik bestach, Gegenstand des Unterrichts. Doch was zählt schon der Eindruck einer Schülerin, die immer kurz davor stand, von der Schule zu fliegen. Zu der ihr Direktor gesagt hatte: "Subjekte wie du beflecken das Ansehen der wohlgeratenen Tadellosen." Manchmal denke ich noch an die kleinen, traurigen Geschichten des Dichters zurück, doch an keine einzige konnte ich mich jemals mehr erinnern.
Während man in seiner Biografie nachlesen kann, dass er 1933 - wie alle Lehrer seines Kollegiums - in die NSDAP eingetreten war, konnte eines seiner Gedichte während der NS-Zeit nicht veröffentlicht werden. Es handelte von Granaten, Schrapnellen, Torpedos und den U-Boot-Tests in seiner Heimatstadt.
Man nannte ihn auch einen Dichtern der "inneren Emigration", der sich während des Nationalsozialismus für den Rückzug auf die Natur entschieden hatte. Heute ist der Dichter, dessen Namen ich aus Diskretionsgründen unerwähnt lassen möchte, fast vergessen. In fast keinem Schulbuch mehr findet sich ein Text von ihm.





Über das Gedicht

Veröffentlicht: 06.08.2007
Kategorie: Kurzgeschichten

Link zum Gedicht

Das Reimlexikon der Lyrikecke

Träumst Du davon selbst eigene Gedichte, Song-Texte oder Raps zu verfassen, aber Dir fallen keine passenden Reime ein?

Das Reimlexikon der Lyrikecke hilft Dir beim Reimen - schnell und kostenlos.


Theorie des Schreibens


Lyrikecke bei Facebook
Lyrikecke bei Facebook