Auf-/zuklappen

Opa Heinrich - (History)

Gabyi - 2007

Aus seiner Nase träufelte regelmäßig eine klare Flüssigkeit, von der er behauptete, es sei Gehirnwasser. Zwei oder drei Zähne hatte er noch in seinem Mund, das reichte ihm zum Kauen. Stämmig, klein, ja untersetzt war seine Statur.
Er hieß Heinrich - und er schlurfte in braun-schwarz karierten Pantoffeln durchs Haus, wenn er nicht draußen auf einer Rentner-Bank saß.
Er bekam gute Butter, wo wir Kinder Margarine aßen, eine Extra-Portion abgepackte Milch, wo wir noch lose Milch aus der Kanne oder später der Milchmaschine tranken und seine Leibgerichte waren Erbsensuppe, Linsensuppe, Bohnensuppe, Grünkohlsuppe, Sülze, Blutwurst, Presskopf, Hohe Rippe und Schweinebacke und -schwarte. Und natürlich Kohl in allen Sorten und Variationen. Meine Mutter achtete darauf, es ihm möglichst oft zu kochen. Denn er zahlte ihr Kostgeld. Wir Kinder bekamen eher Bauchschmerzen.
Mein Opa kaufte meinem kleinen Bruder einen großen Legokasten aus Holz und ließ sich von diesem Zeitpunkt nicht mehr davon abhalten, täglich - auf seinem Biedermeiersofa sitzend - ein Haus nach dem anderen zu bauen. Bis alle Steine verbraucht waren, dann wurde meine Mutter in den Spielzeugladen geschickt, um Nachschub zu holen.
Komplexe Bauwerke waren das, mit Giebeln, Türmen und Kaminen, verziert und verschnörkelt. Immer neue Schachteln wurden nachgekauft, Einer, Zweier, Dreier, Vierer und so fort. Ecksteine und Dachziegeln waren auch sehr wichtig - und Platten.
Wenn er aus einer Steinguttasse oder einem Glase Milch trinken wollte, blieb seine stattliche Nase einfach am oberen Rand stecken. Immer wieder wunderte er sich aufs Neue darüber. Ob das schon immer so war, blieb offen, jedenfalls war es immer wieder einer Bemerkung wert.
88 Jahre wurde er immerhin alt.
Wenn wir Kinder ungezogen waren, nahm er einen seiner Pantoffeln in die Hand, schwenkte ihn und rief:
"Töv man, töv man to, ik kum mit de Pantuffel !"
Er kämpfte in der Schlacht bei Ypern im 1.Weltkrieg - erzählte meine Patentante - und während eines Fronturlaubs zeugte er noch mal schnell meine Mutter als letztes von 10 Kindern. Meine Großmutter war nicht gerade begeistert. Meinen historischen Recherchen nach handelte es sich jedoch eher um die Schlacht von Verdun.
Er musste es sich bieten lassen, dass eine wildfremde Familie mit Kind in sein Haus einzog - ohne ihn zu fragen und ganz ohne Mietvertrag - und den einzigen Wasserhahn in seiner Küche mit einem Waschmaschinenanschluss blockierten. Meine Eltern waren nicht imstande, die Familie hinauszuwerfen. Die Mietschmarotzer blieben noch drei Jahre und mein Opa bekam zwangsläufig wassertechnisch Probleme mit seiner Körperhygiene, die ohnehin gefährdet war.
Er machte uns Kindern wertvolle Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke, die von einer kleinen Rente finanziert wurden, ebenso auch die Geschenke an seine Urenkel. Er schickte uns zum Bäcker - "Schlecker-Kuchen" kaufen - und spielte regelmäßig Lotto.
"Geh' ma zum Blinden un hol mi ne Blifedder".
Das ist Plattdeutsch und der Blinde hieß Strassburger und führte einen winzigen Krämerladen, wo es fast alles zu kaufen gab. Die "Bleifeder" war dazu gedacht, den Lottoschein auszufüllen.
Doch seine heimliche Leidenschaft galt seinen Tauben, die auf dem kleinen Hof von Dach zu Dach flatterten und getrockneten Mais pickten. Ein wunderschönes Taubenhaus gab es auch noch, das leider der großen Sturmflut von 1962 zum Opfer fiel.
Und natürlich war mein Opa Mitglied im Taubenzüchterverein. Die Vögel bekamen rotmetallische Ringe um ihre Beine gelegt, damit man sie eindeutig zuordnen konnte.
Mein Großvater kämpfte im Krieg, hatte sein Leben lang als Malermeister in seinem Betrieb und der Malerwerkstatt hart gearbeitet und mit seiner Frau zehn Kinder aufgezogen, von denen drei starben und eines behindert war.
Er hörte regelmäßig den Zapfenstreich von einer Schallplatte und hatte sich seinen Lebensabend mehr als verdient.


Der alte Mann und sein Zimmer

Lange Zeit, jedoch nicht immer
lebte er in seinem Zimmer

Muffig hat es hier gerochen
Mobiliar früher Epochen
Bettpfosten sind abgebrochen
Altes Biedermeiersofa
dunkelgrün und abgeschabt

Tuch mit abgewetzten Ecken
fahle Flecken auf den Decken
gilb, zerlöchert und zerschlissen
manch ein Knopf ist abgerissen

Krümel in den Sofaritzen
Kissens Häkelsaum mit Spitzen
Schließlich lief aus seiner Nase
Hirnwasser in eine Vase

In den Augen Grauer Star
und an seiner Prostata
fraß ein Cancer, das war klar
Raubtierkrebs der letzten Stufe

Keiner hörte seine Rufe
Sah zum Schluss von seinem Leben
Tiere, grau, durch Räume schweben
Schwarze Fliegen waren da
schon nach einem halben Jahr

Lebten lange, doch nicht immer
unten dort in seinem Zimmer

(C)2003





Über das Gedicht

Veröffentlicht: 14.11.2013
Kategorie: Kurzgeschichten

Link zum Gedicht

Das Reimlexikon der Lyrikecke

Träumst Du davon selbst eigene Gedichte, Song-Texte oder Raps zu verfassen, aber Dir fallen keine passenden Reime ein?

Das Reimlexikon der Lyrikecke hilft Dir beim Reimen - schnell und kostenlos.


Theorie des Schreibens


Lyrikecke bei Facebook
Lyrikecke bei Facebook