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Berliner StattPläne - Eisenacher Straße

Gabyi - 2007

Meine allererste Begegnung mit der Eisenacher Straße war eine etwas heftige.
Ein Kommilitone hatte mich nach der Uni in seinem Auto mitgenommen, in dieser Straße abgesetzt - und ich suchte nun die gleichnamige U-Bahnstation. Die Straße ist sehr lang, sie zieht sich von der Kleiststraße bis weit hin zur Hauptstraße, führt über den Barbarossaplatz und kreuzt die Hohenstaufen- und die Grunewaldstraße. Ich schlug wohl die falsche Richtung ein - Richtung Tiergarten.
Als ich über den Bürgersteig schlenderte - ich erinnere mich noch als wäre es gestern - sprang ganz nah der Kleiststraße aus einem Hauseingang ein etwa 12jähriger Junge und rief mir zu:
"Bitte - peitschen Sie mich aus, ich bezahle auch dafür. Bitte bitte !!".
Und er wedelte mit einem Geldschein in der Luft herum.
Weit und breit keine andere Person in Sicht und ich fragte mich, was ich denn an mir hätte, dass jemand mir so etwas zutraute. Ich war relativ neu in der Stadt und dementsprechend landpommeranzig vom Wesen. Ich trug einen karierten Dufflecoat und Jeans, nichts aufregendes. Nur lange blonde Haare vielleicht.
Ich schüttelte entsetzt den Kopf und flüchtete in Richtung Nollendorfplatz.
Der arme Junge, was der wohl für ein perverses Leiden hatte. Ich konnte es nicht fassen.
Ein paar Jahre später hatte sich meine Mutter zum Besuch angemeldet. In meiner 1-Zimmer-Wohnung lebte zum damaligen Zeitpunkt auch mein Freund, so gab ich ihm den Auftrag, ein günstiges Pensionszimmer für sie zu suchen. Er fand auch eins, im "Haus Eisenach" in der gleichnamigen Straße, und als sie das Zimmer betrat, brach sie fast in Tränen aus.
Wo sind die Kleiderbügel seufzte sie mit trauerumflorten Blick in den etwas düsteren Raum, doch das Wort "Stundenhotel" wurde lieber nicht ausgesprochen. Am Ende schliefen wir zu dritt in meiner kleinen Wohnung und sie gab sich redliche Mühe, mir meine Schwangerschaft auszureden. Allerdings ohne Erfolg.
Kurz darauf hatte ich dann eine Wohnung in der Eisenacher gemietet, 2 Zimmer, Hinterhof, Erdgeschoss. Pfirsichbaum vorm Nordfenster, der sogar Früchte trug.
Etwas länger als zwei Jahre lebte ich dort mit meinem Freund und dem Baby. Es war eine wunderschöne Zeit in einer lebendigen kreativen Straße mit Spielplatz und einem Frühstücksrestaurant ganz in der Nachbarschaft.
Nur mein Kinderwagen wurde aus dem Hausflur gestohlen und zweimal in der Wohnung eingebrochen. Viele Sachen konnte ich mir später aus dem Pfandhaus wieder zurück holen, die Polizei hatte gute Arbeit geleistet, nur ein Babybettbezug, eine Kassette mit türkischer Musik, eine Kette und mein schöner Plattenspieler von Te***ics blieben verschollen. Einer, den man an die Wand hängen konnte.
Das alles geschah in der Eisenacher Straße, deren nördliches Ende um den Nollendorfplatz herum viele Kneipen der schwulen Szene beherbergt.

aus: "Berliner StattPläne"





Über das Gedicht

Veröffentlicht: 14.01.2014
Kategorie: Kurzgeschichten

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