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Westerland - Teil II

Gabyi - 2003

Am ersten Tag nach ihrer Ankunft bekam sie Heimweh nach der Mutter. Sie schrie und weinte abwechselnd laut und bitterlich und war durch nichts in der Welt zu beruhigen. Salzige, brennende Tränen liefen über ihr Gesicht und dicke grüne Schnotten rannen aus der Nase heraus. Die Gesichtshaut war rot und angeschwollen und brannte wie Feuer, im Kopf bohrte ein dumpfer Schmerz. Die Tante war außer sich und wusste sich keinen anderen Rat mehr, als zum Telephon zu gehen und die Mutter anzurufen. Das aber war keine ganz einfache Aktion, denn die Mutter besaß gar kein Telephon. In der Straße, wo sie lebte, gab es nur zwei Häuser mit Telephon, das war das Haus des Blinden, der einen Krämerladen betrieb und die Schmiede Gerdau.
Ihre Tante hatte bei Gerdau's angerufen. Bei wichtigen Anlässen, wie etwa unverhofften Krankheitsfällen oder Todesfällen, war es üblich, beim Nachbarn anzurufen, um die Neuigkeit, die dann meist gewünschte Hilfe nach sich zog, schnellstmöglich mitzuteilen Frau Gerdau stand dann unten an der Haustür ihres Elternhauses, riss die Tür auf und stemmte wie immer resolut die Arme in die üppigen Hüften. Sie schrie dann unüberhörbar:"Ma'anne, Telephon!". Dabei vibrierte ihr dreifaches Doppelkinn jedesmal bedrohlich, weil auch noch gleichzeitig ein beachtlicher Kropf mit in Schwingungen geriet.
Ihre Mutter musste dann in ihrem Haus alles stehen und liegen lassen, um zum Telephon zu eilen. Denn Ferngespräche waren sehr teuer. Genau so muss es auch in diesem Fall gewesen sein. Das schluchzende Kind in Westerland saß oben auf der Treppe des Reetdachhauses und nahm unter Weinkrämppfen am Rande wahr, wie die Tante die Mutter anflehte, sie um jeden Preis wieder nach Hause abzuholen. Der Telephonapparat hing unten im Flur an der Wand, schwarz und offiziell, denn der Onkel besaß einen Malerbetrieb. Die Mutter jedoch zeigte sich unerbittlich. Das Flehen ihrer Tante wurde einfach abgeschmettert, etwa so: "Warte noch einen Tag, dann hat sich der Fall von selbst erledigt". Daas hatte sie so in ihrer Ausbildung zur SS-Maid gelernt, Spezialthema "Wie erziehe ich ein Kind für meinen Führer?". Genau, wie sie dort zur Sauberkeitserziehung kleiner Kinder gelernt hatte, bei häufigem "In-die-Hose-machen" das Gesicht des Kindes mit Kot einzureiben. Wie es mit dem einundhalbjährigen kleinen Bruder geschah, der einfach nicht sauber werden wollte, nachdem er doch noch geboren worden war und bevor er zu Tante Li kam, während sie bei Tante Inge war. Tante Li schaffte es dann doch mit etwas Liebe und Nettigkeit, dass er keine Windeln mehr tragen musste. Das ereignete sich zeitlich parallel zur Westerlandreise des kleinen Mädchens.
Tante Inge indes gelang es nicht, die Mutter zum Abholen des Kindes zu bewegen. Wie sollte sie auch. Und die Mutter hatte doch recht, nach einer unruhigen Nacht mit vielen Tränen und bohrenden Kopfschmerzen war es fürs erste vergessen. Ein neues Leben konnte beginnen.





Über das Gedicht

Veröffentlicht: 09.08.2007
Kategorie: Kurzgeschichten

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