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Brunnenränder - Verwittert

Gabyi - 2003

Brunnenränder - Verwittert

"Indes wie blasser Kinder Todesreigen
Um dunkle Brunnenränder, die verwittern,
Im Wind sich fröstelnd blaue Astern neigen."

aus Georg Trakls Gedicht "Verfall"

Der Friedhof war für das Mädchen eine Art verwunschener Garten.
Wenn die anderen Kinder im Sommer in ihren Gärten spielten, hatte sie stattdessen ihren Friedhof als Spielplatz. Sogar noch im Winter konnte sie ihn in seiner dunkelgrünen Tannenvegetation genießen.
Denn jedes Jahr im November nahm die Mutter sie an die Hand und holte mit ihr aus der Friedhofsgärtnerei die bestellten Tannenzweige zur Abdeckung des Familiengrabes ab.
"Damit Oma nicht frieren muss im Winter", sagte sie.
Und es war verdammt kalt auf dem Friedhof.
Oder am Heiligenabend.
Da wurde mit dem Mädchen und ihren Brüdern eine regelrechte Bescherung auf dem Grab zelebriert mit Kaffee und Weihnachtsgebäck. Auf einer kleinen weißen Bank, die eigens für diesen Zweck auf dem Grab aufgestellt worden war. Und an die dürren braunen Äste einer jungen Birke in der Ecke hängte die Mutter dann für kurze Zeit Weihnachtskugeln und Lametta, weil auf dem Grab leider kein Tannenbaum vorhanden war.
"Oma guckt aus dem Himmel zu und freut sich."
Die anderen toten Verwandten, die auch noch mit im Grab lagen, waren schon länger tot und wurden demzufolge nicht weiter beachtet. Es handelte sich um längst verstorbene Großeltern der Mutter, ihre viel zu früh verschiedenen kleinen Geschwister und zwei Selbstmörderinnen.
Die Oma lag noch nicht so lange hier und wurde von der Mutter abgöttisch geliebt.
Im Sommer quoll der Friedhof über von üppig blühenden Blumen, gelbe und blaue Stiefmütterchen wurden gepflanzt, Vasen mit blütentragenden rosa und weißen Gewächsen gefüllt und vor den Grabsteinen aufgebaut. Wuchernde Blütenmeere, nach Sargdeodorant duftend, überzogen die gut gewarteten Gräber und verströmten ihre süßlichen Aromen in ausufernde Weiten.
Zur Bewässerung konnte man sich das Wasser aus den zahlreichen Brunnen holen, große alte und rechteckige Steingebilde, in die permanent das Wasser aus einem unansehnlichen grünlich zerfressenen Wasserhahn tropfte oder strömte und den Brunnen zum Überlaufen brachte. Niemand hatte Lust, den Hahn abzudrehen, wegen des Leichengiftes, und so plätscherten die Brunnen leise murmelnd vor sich hin und die steinernen grauen Brunnenränder verwitterten lange vor ihrer Zeit.
Meist wurde das Mädchen zum Wasserholen geschickt, den Brunnen konnte sie sich selber aussuchen. Bewaffnet mit einer Gießkanne oder kleinen kelchförmigen Vasen, unten mit einem Dorn zum in die Erde stecken, ging sie dann, ein Lied summend, den Weg entlang.
"Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Lindenbaum", von Schubert vertont für das Klavier.
Durch die Gräberreihen, wo viele Kindergräber lagen mit ihren niedlichen kleinen weißen Särgen unter der Erde.
Schade nur, dass man sie nicht sah.
Dass die Erde auch nicht durchsichtig sein konnte...
Ein wohliger Schauer erfasste sie jedes Mal aufs Neue beim Betrachten der Kreuz - Inschriften "Unser kleiner Liebling Michaela" oder "Hier liegt unser Sonnenschein Susanne", ein Grabstein trauriger als der andere.
In den Todeanzeigen hatte dann so etwas gestanden wie
"Im zarten Alter von 3 Jahren hat unser Engel uns für immer verlassen. Warum?"
Eine warme Trauer erfüllte sie, machte sich breit in ihr und ließ sie erschaudern.
Sie war froh, dass sie noch lebte, man glaubt ja gar nicht, wie schnell man als Kind sterben kann... Kurz nach dem Krieg sollen hier reihenweise weiße Särge in die Gruft gesunken sein, so erzählte man sich. Sie stellte sich die kleinen Särge vor, weiß lackiert und von traurigen Geschwistern umgeben, die sich weinend an den Händen hielten.
Auch ihre Großmutter hatte kleine Kinder verloren, aber das war schon lange her. Das war weit vor dem Krieg, ja sogar schon vor und während des 1. Weltkrieges.
Weiter ging es, vorbei an dem Kriegerdenkmal, das im Volksmund "Der gefallene Engel" genannt wurde. Es war aus einer anderen Stadt auf diesen Friedhof versetzt worden, ein gefallener Soldat in den Armen eines Engels aus hellem Sandstein.
Der Sterbende hielt einen Karabiner in der Hand.
Weil das Denkmal von seiner alten Stadt für zu blutrünstig befunden worden war, kam der Engel schließlich hierher auf diesen Friedhof. In die Stadt am Meer.
An Heldengedenktagen, Totensonntagen und an Volkstrauertagen warf man vor ihm Kränze nieder.
Weiter führte der Weg sie vorbei an der Friedhosgärtnerei, deren Brunnen am Fuße eines steil abschüssigen Weges stand. Hier spielte sie oft und gern mit ihren Geschwistern das Spiel namens "Die Welt fällt in die Toilette."
Dazu mussten sie schon oben am Friedhof beim Eingang zur Gärtnerei die Luft anhalten. So lange, bis die Gefäße unten am Brunnen mit Wasser gefüllt und der Weg nach oben wieder zurückgelegt war. Schaffte man die Prozedur nicht rechtzeitig und musste zu früh Luft holen, hatte die Welt für immer verloren. Besonders schwer wog der Luftmangel, wenn doch mal jemand mit Umweltbewusstsein den Wasserhahn einfach zugedreht hatte.
Das bedeutete dann den unwiederruflich eingeläuteten Weltuntergang.
"Leb' wohl denn mein Brunnen, bis zum nächsten Mal..."
Und ein fernes Rauschen summte und tönte näher und näher in ihrem Ohr.
Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis der Brunnen bricht.
Oder war es nicht doch der Krug, der bricht? Sie wusste es nicht mehr.
Sie wusste jetzt nur noch das eine:
"Ich sollte das Wasser aus dem alten, verwitterten Friedhofsbrunnen für unser Grab holen, weil meine Mutter die Blumen gießen will. Die blauen Astern, die rosa Nelken, die gelben und blauen Stiefmütterchen und die Chrysanthemen."
Sie dreht den Hahn auf und lässt das Wasser in die Gießkanne laufen. Schnell, schnell, hurtig.
Schwarze Grabsteine stehen gebeugt vom ewigen Wind und die Brunnen raunen.
Tropf, tropf, tropf, so murmelt der Brunnen, so plätschert es an ihrem Ohr vorbei.
Das Wasser rinnt und rinnt und rinnt, unentwegt und unermüdlich ewig. Denn immer und immer tropft der rostige Wasserhahn, weil keiner es wagt, ihn abzudrehen.
Und das murmelnde Wasser läuft über die verwitterten Ränder hinunter zur Erde und versinkt im dunklen Reich der Toten.
Ein hauchdünner, zartweißer Schleier legt sich über ihre Pupillen. Betört von lauen, seufzenden Winden hört sie die glashell blaukristallklaren Klänge eines verwunschenen Springbrunnens in einem orientalischen Garten, mit sprudelnden Quellen aus unterirdischen Zisternen. Sie rauschen so fern und doch so nah an ihrem Ohr entlang. Die säuselnden Lüfte über einem See, bedeckt mit blühenden Seerosen, streicheln das Gesicht so zart, und die Blüten der Lilien und Magnolien breiten sich üppig neben Orchideen in einem farbenprächtigen, breiten Teppich vor ihren verwunderten Augen aus.
Ein schneeweißer Schwan gleitet sanft an ihr vorbei über den türkisblau schimmernden See und es duftet so süß und so schwer.
Ein schwarzer Schwan folgt ihm langsam nach, verharrt in seiner Bahn und legt schlangengleich den langen Hals auf sein unterirdisch dunkles Gefieder nieder. Sein bleichroter Schnabel liegt nun anmutig und doch matt auf dem edlen Körper, als warte er auf den letzten Atemzug.
Und ganz langsam sinkt sie hinab in die Tiefen der ewigen Zisterne und ihr weißgeflügelter, gefallener Engel ist bei ihr und begleitet sie ins Reich der Unterwelt zu den gestorbenen Kindern in den weißschimmernden Kindersärgen voller Blumen und mit traurigen Teddybären gefüllt.
"Leb' wohl mein Brunnen, bis zum allerletzten Mal."
Und die schwarzen Grabsteine stehen gebeugt vom ewigen Wind des nahen Meeres und die uralten Brunnen raunen ihr von weitem zu:
"Leb' wohl!"
Am Ende ertönt der Akkord einer Grabsteinmelodie mit dem Text aller Grabinschriften.
Und ganz zum Schluss erklingt der finale Akkord eines unendlichen Grabsteinkonzertes mit den Melodien ewiger Gesänge der Grabsteinschriften und -insignien.

(C) 2003


aus "Zwischen Schlachthof und Soldatenfriedhof"





Über das Gedicht

Veröffentlicht: 14.09.2014
Kategorie: Kurzgeschichten

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