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die Mahlzeiten - (History)

Gabyi - 2003

Die Mahlzeiten

Das Abendbrot wurde Tag für Tag um Punkt halb sieben eingenommen.
Ausnahmen wurden nicht geduldet, darauf achtete schon der Vater peinlichst genau. Seine Frau aß grundsätzlich nicht mit und saß auch nicht am Tisch, weil sie keinen Hunger hatte oder schlank bleiben wollte oder vorher Kekse (knusprige) verzehrt hatte. Der Vater kochte schwarzen Tee, holte das Brot aus dem Schrank und die Aufstriche aus dem Kühlschrank. Es gab meistens immer dasselbe, das waren zwei Scheiben Schwarzbrot dünn mit Margarine bestrichen. Eine Scheibe wurde darauf mit Cervellatwurst belegt und die andere mit Marmelade versehen. Andere Brotaufstriche waren auf Dauer zu teuer oder zu umständlich zu besorgen. Mehr als zwei Scheiben Brot zu essen, war nicht erwünscht. Nur zu besonderen Anlässen gab es manchmal Heringsfilets aus Dosen oder anderen Dosenfisch in Tomaten- oder Senftunke mit Gemüse gestreckt.
Das Schwarzbrot durfte nur bei einem bestimmten Bäcker gekauft werden, dessen Laden in einer etwas weiter entfernteren Straße lag. Meist wurde ihr die Aufgabe des Brotkaufes zugewiesen. Ihre Mutter betrat sehr selten Bäckerläden, doch andere Lebensmittelgeschäfte ebenso wenig. Das besagte Schwarzbrot war nicht frisch gebacken, sondern Fabrikware, in Cellophan eingeschweißt. Der schwache Magen des Vaters vertrug nur diese eine Sorte, die frischen, wohlschmeckenden Vollkornbrotsorten unterlagen einem strikten Tabu und wurden niemals gekauft. Nicht ein Mal! Nur einmal hatte er aus Restbeständen der Bundeswehr, die Mutter nannte sie beharrlich Wehrmacht, größere Vorräte an Brot in Dosen wohlfeil erstanden. Kreisrunde Brotscheiben stapelten sich darin, nicht etwa viereckige, wie bei normalem Brot zu erwarten war. Leider war es aber knochentrocken wie Sägemehl. Gleichzeitig erwarb der Vater noch größere Mengen von Schmelzkäse in Alutuben. Das reichte eine ganze Weile und eröffnete dem Kleinbürgertum ganz neue Perspektiven auf dem mühsamen Weg zur Haute-Cuisine.
Wenn der Vater Mittags nach Hause kam, rief er stets lautleise "Mahlzeit" in die Runde.
Als die Großmutter noch lebte, kochte sie meistens und oft gab es dann Schwarzsauer. Das war gekochtes Schweineblut und der Mund des kleinen Mädchens war dann über und über von Blut verschmiert, so erzählte es der große Bruder immer wieder. Ein weiteres Lieblingsgericht ihrer Mutter war Buttermilchsuppe mit Klößen oder Brotsuppe. Das waren alte Schwarz- oder Weißbrotwürfel in saurer Buttermilch gekocht. Es roch wie Kotze. Das Mädchen mochte keinen Brotsuppe, die roch nicht nur so, die sah auch so aus mit säuerlich zerronnenen Brotfäden und wenn sie dann erst mal im Mund waren, fühlten sie sich schwammig und schleimig an. Sie musste so lange vor dem Teller sitzen, bis alles aufgegessen war. Manchmal dauerte es Stunden. Und wenn die Mutter gute Laune hatte, kochte sie noch was Leckeres, das durfte aber erst nach der Brotsuppe gegessen werden. Dann war ihr aber schon so schlecht, dass sie es stehen ließ.
Die Buttermilchsupppe mit Klößen war mit Mehlklößen zubereitet, an denen ihr kleiner Bruder fast erstickt wäre. Wenn nicht der Opa in die Küche gerufen hätte:
"Ma'anne, kumm töv' ma to, de Jung verstickt". Da riss die Mutter das Kind kopfüber an den Beinen hoch und schüttelte den Kloß aus dem Leib. Die blaue Farbe wich, das Leben war gerettet. Der Kloß lag am Boden.
Aber es gab auch wohlschmeckende Gerichte, z.B. Rhabarbergrütze mit Vanille- Pudding. Nur leider kochte die Mutter sie in einem Aluminiumtopf, der nach der Prozedur hell und blitzblank glänzte. Das Aluminium hatte sich durch die Oxalsäure gelöst und heute weiß man, dass es im Verdacht steht, Alzheimer auszulösen. Die Mutter ist schon im Heim. Oder Vanillepudding mit Schokoladensoße und Schokoladenpudding mit Vanillesoße - aber leider immer nur eine kleine Schale voll. Ein anderes Lieblingsessen war Bratwurst, doch die gab es, als sie kleiner war nur Sonntags und auch nur eine halbe Wurst für jedes Kind. Oder Erbsen und Wurzeln schmeckte gut oder Falscher Hase. Königsberger Klopse mit Kapern aß sie auch sehr gerne, während Backpflaumen und getrocknete Aprikosen, auch Backobst genannt, mit ausgelassenem Speck doch schon etwas schwerer im Magen lagen.
Und Bei ihrer Freundin gab es das Essen, das alle Kinder damals liebten. Abends zum Werbefernsehen (ihre Eltern besaßen leider keinen Ferseher) standen Scheibletten-Käse, Fischstäbchen, Zöpfli und Birelli oder Mirakuli auf dem Tisch. Hier konnte sie unbeschwert Serien wie "Bezaubernde Jeanny" mit dem legendären Larry Hagman, das sprechende Pferd "Mr. Ed" und Emma Peel sehen, während die Mutter ihrer Freundin, die auch die beste Freundin ihrer Mutter war, das Abendbrot zubereitete und servierte. Bei ihrer anderen Freundin, deren Mutter auch eine Freundin ihrer Mutter war und die eine Drogerie besaß, war das Abendessen schon vornehmer. Es wurde so eingenommen, dass man piekfein seine Brote mit Messer und Gabel zerschneiden musste, lauter ungewöhnliche Speisen wie Ravioli, eingelegte Gurken, Krabbensalat, Endiviensalat, Fleischsalat und roten oder weißen Heringssalat. Vor lauter Respekt bleiben ihr fast die Bissen im Halse stecken.
Die Mahlzeiten bei ihr zu Hause wurden ausschließlich vom Geschmack der erwachsenen alten Menschen bestimmt. Erbsensuppe, Linsensuppe, Bohnensuppe und Grünkohlsuppe, die Lieblingsspeisen ihres Großvaters, zubereitet aus getrockneten Hülsenfrüchten aus der Mühle. "Gute Butter" aß nur der Großvater, weil die zu teuer war und er die selber bezahlte, der Vater kaufte die gesund Vitaquell Margarine aus dem Reformhaus für sich und für die Kinder gab es Rama, Sanella oder später auch Flora Soft aufs Brot. Und jede Menge Kohl in allen Sorten und Variationen. Spitzkohl, Langkohl, Wirsingkohl, Weißkohl. Blumenkohl, Rosenkohl, Rotkohl und Grünkohl. Brokkoli gab es noch nicht.
Was soll man noch sagen, auch süße Sachen standen hin und wieder auf dem Speiseplan wie Buchweizengrütze mit Zuckerrübenkraut *würg* oder Mädchenröte. Letztes war geschlagenes Eiweiß vom Huhn, vermischt mit eingemachtem Johannisbeersaft., der oben in der Einweckflasche mit Einweckgummi meist schon verschimmelt war. (Noch lebe ich...). Süße Brotaufstriche wie Kunsthonig, eingemachte Marmelade (auch oft mit Schimmel) und Zuckerrübensirup. aber auch echten Honig gab es, manchmal in einer großen Waabe aus Kunststoff.
Das mit den Getränken war ein besonderes Thema. Milch war für die drei Kinder das hauptsächliche Getränk, nur schade, dass sich das Mädchen vor Milch zu Tode ekelte und deswegen meist auf die (bleiverseuchte) Wasserleitung angewiesen war. Manchmal wurde allerdings auch Limonade von einer Getränkefirma bestellt, das hieß Vorlo und musste gut rationiert werden. Abends trank man grundsätzlich Tee oder Mate. Das heißt, der Vater mit Kindern, denn die Mutter nahm, wie eingangs erwähnt, an den Abendbroten nie teil. Dass das Mädchen ständig an Herzklopfen im Bett litt, konnte nur einen Grund haben: ihr schlechtes Gewissen. So hatte es ihr jedenfalls der Vater zu erklären versucht, als sie ihm ihr Leiden schilderte. Inzwischen weiß sie, es war der schwarze Tee, dessen Coffein bei kleinen Kindern ungleich stärker wirkt als bei Erwachsenen. Oder es lag an der Abschüssigkeit ihres Kinderzimmers, in dem ihr Kinderbett am Fußende sehr viel tiefer stand als am Kopfende. Auch Murmeln und Bälle rollten hier durchs Zimmer. Wahrscheinlich hatte das Herz unter diesen Randbedingungen eine größere Pumpleistung zu vollbringen. Das Bett war übrigens 1.40 m lang und sie schlief darin bis zu ihrem 10. Lebensjahr. Heutzutage nimmt man diese Größe für Säuglingsbetten. Aber ich schweife ab.
Die Frühstücke waren ein Thema für sich.
Der Vater verließ pünktlich um viertel sieben das Haus. Davor hatte er noch die Kinder in ihren kalten (im Winter) Betten geweckt. Dann waren sie sich selbst überlassen. Als die Mutter noch nicht so lange schlief, frühstückte sie gemeinsam mit den Kindern. Dazu gehörte es, dass das Mädchen zum Bäcker Rabe geschickt wurde, um für die Mutter Kümmelhörnchen zu holen. Aber knusprige, musste sie immer sagen, sonst wurde sie wieder zurückgeschickt.
Dann kam die Zeit, da die Kinder allein essen mussten, weil die Mutter noch schlief.
Sie bereiteten sich Haferflocken zu mit Milch, Zucker und Kakao. Schön viel Zucker wurde genommen, weil keiner aufpasste.
Die Haferflocken zu besorge, war Aufgabe des Vaters. Er kaufte sie in der Finanzamtkantine, weil die Mutter nur auf dem Markt einkaufte. Den Rest außer Gemüse musste das Mädchen kaufen.
Wenn es sich zutrug, dass der Vater die Koellnflocken vergessen hatte, prügelten die Kinder sich bis aufs Blut um die letzten Reste. Dann stand manchmal die Mutter auf, um zu schlichten.
Was wohl die Nachbarn dachten bei diesem Getöse ?
Puterrot und echauffiert kamen sie schließlich in der Schule an, als wäre nichts gewesen.

(C) 2003





Über das Gedicht

Veröffentlicht: 13.01.2014
Kategorie: Kurzgeschichten

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