Auf-/zuklappen

Berliner StattPläne - Kleistpark

Gabyi - 2007

Kleistpark

Ursprünglich noch am Alexanderplatz, stehen die barocken Königskolonnaden heute am Eingang des Kleist-Parks. Trotz Restaurierungsarbeiten lauern noch Einschusslöcher im Gestein. Und dass sich im Park anfang des 18. Jahrhunderts ein Botanischer Garten befand, mit Adalbert von Chamisso als Kurator, gerät allmählich in Vergessenheit.
Noch immer grün ranken die Pflanzen und alte Laubbäume wachen bei den alten Kolonaden. Wo Einschusslöcher der 1848er Revolution - der einzigen - eine merkwürdig einsame Leere fristen. Eine sonderbare Allianz mit dem Vakuum.
Wir schreiben das Jahr 1990, Herbst in Berlin Schöneberg. Die Wende (keine Revolution) ist gerade überstanden.

Ab 1945 war das ehemalige preußische Kammergericht Standort des Alliierten Kontrollrats. 1971 wurde hier das 4-Mächteabkommen ratifiziert. Bis 1990 blieb als letzte alliierte Einrichtung die Luftsicherheitszentrale der Alliierten im Gebäude. Nach der Wiedervereinigung in deutsche Verwaltung zurückgegeben, befindet sich hier heute das Berliner Kammergericht. Seit 1992 ist hier der Sitz des Berliner Verfassungsgerichts-hofs sowie der Berliner Generalstaatsanwaltschaft.
(Wikipedia)


Im Herbst des Jahres 1990 kann man nun wieder im Park ungehindert lustwandeln. Flanieren ohne Angst. Sollte man glauben.
Der kleine Tim, ein Kind des kalten Krieges, ist gerade eingeschult worden. In die Vorschule zwar erst (seine Mutter ist allein erziehend und berufstätig), aber die kleine Schultüte hat ihm große Freude bereitet. Im nächsten Jahr würde er dann eine große bekommen - zur richtigen wahren Einschulung. Das Kind ist überaus lebhaft, sehr aufgeweckt, aber kaum zu bändigen. Seine Vorschullehrerin Frau Lackinsie, eine korpulente Person mit rot gefärbten Locken, hat schon lange einen Panzer aus Transfett um ihren Körper gelegt. Zum Schutz vor der Welt, munkeln die Mütter. In den Pausen schnappt sie sich gerne die Streuselschnecke, die Tim von seiner Mutter eingepackt bekommen hat. Er muss das wehrlos über sich ergehen lassen. Einmal hat er ein Kaugummi im Mund, macht eine große Blase - und Frau Lackinsie zerplatzt sie ihm mit der flachen Hand. Da haut er zurück und sie gibt ihm eine Ohrfeige.
Die Beschwerden der Mutter prallen ins Leere, es fehlen Beweise und ihr wird vorgeschlagen, die Schule zu wechseln. Aber wohin, es sind doch schon alle Plätze verteilt, wenigstens an vernünftigen, einigermaßen seriösen Schulen. Damals herrschen an den westberliner Schulen - zugespitzt formuliert - nahezu mafiöse Strukturen. Kein übergeordnetes Schulamt war irgendwie weisungsbefugt. Willkür war an der Tagesordnung.
Wenn Tim Bilder malt, sehen sie nicht bunt aus, sondern grau oder schwarz. Beim Basteln stellt er sich ungeschickt an. Er ist hyperaktiv, sagt seine Mutter, aber die Lehrerin ist anderer Meinung, gibt ihr die Schuld am auffälligen Verhalten. Sie ist ja alleinerziehend, da kommt so was öfter vor. Sagt sie. Aber die Mutter lässt sich nicht davon beirren. Sie möchte ihr Kind beschützen. Zu der Zeit hatten hyperaktive Kinder noch keine Lobby, kein Pharmaunternehmen machte damals Marketing für ein psychoaktives Medikament gegen das Syndrom.

Dann kommt der große Tag des Laternelaufens.

Im Kleistpark soll er stattfinden und es soll zuhause eine Laterne gebastelt werden.
Das Kind wehrt sich und quengelt schon Tage vorher. Die Mutter versucht, es zu besänftigen und mit ihm zusammen die Laterne herzustellen. Es ist die Hölle. Er tyrannisiert und schreit pausenlos und strapaziert ihre Nerven, dass sie ihm zum Schluss einen Klaps gibt. Sie bereut es zwar sofort, aber geschehen ist geschehen - und am Ende liegen die beiden sich weinend in den Armen. Zu guter Letzt ist die Laterne aber doch noch fertig. Dann ist es soweit.

Die halbe Schattenseeschule hat sich im Park versammelt. Frau Lackinsie läuft an der Spitze.

"Laterne, Laterne, Sonne Mond und Sterne
Brenne auf mein Licht, brenne auf mein Licht
Aber nur meine liebe Laterne nicht."

Der kleine Tim ist unruhig, jeden Moment kann wieder ein Tobsuchtsanfall ausbrechen. Das weiß die Mutter aus Erfahrung. Die Nerven sind angespannt. Und da passiert es auch schon. Tims Kerze in der Laterne erlischt. Die Mutter zündet sie wieder an. Noch mal Glück gehabt, aber dann wieder dasselbe. Tim schmeißt die Laterne zu Boden, brüllt:
"Nein - die blöde Laterne, ich will nicht mehr",
und trampelt auf der Lampe herum, bis das schöne rote Teil zusammengestaucht und zerfetzt am Boden liegt.Er weint nun bitterlich und wirft sich auch auf die Erde. Die Anspannung löst sich langsam, verfließt und die Mutter nimmt ihn in den Arm und tröstet ihn. Wie konnte sie nur so dumm sein, ihm keine Laterne zu kaufen, anstatt der lästigen Tyrannei des Selbstbastelns.nachzugeben. Inzwischen ist es kalt geworden. Dunkel liegt der Park und der Latertnenzug zieht weiter - ohne die beiden.

"Das Licht geht aus,
wir geh'n nach Haus,
ra bimmel ra bammel
ra bumm bumm bumm."

Eine Niederlage für Mutter und Kind, aber sie gehen trotzdem erleichtert nach Hause.
Da jedoch weiß der kleine Junge noch nicht, was ihn noch erwartet, dass am Nikolaustag seine Lehrerin ihm das Nikolausgeschenk aus dem roten Stiefel - ein kleiner Dinosaurier - für quälende drei Tage in den Schrank einssperren wird.


(diese Geschichte ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen und Orten sind rein zufällig)


aus: "Berliner StattPläne"

17.09.07





Über das Gedicht

Veröffentlicht: 21.02.2015
Kategorie: Kurzgeschichten

Link zum Gedicht

Das Reimlexikon der Lyrikecke

Träumst Du davon selbst eigene Gedichte, Song-Texte oder Raps zu verfassen, aber Dir fallen keine passenden Reime ein?

Das Reimlexikon der Lyrikecke hilft Dir beim Reimen - schnell und kostenlos.


Theorie des Schreibens


Lyrikecke bei Facebook
Lyrikecke bei Facebook