Auf-/zuklappen

Die Ostertüte (Die stumpfe Schultüte) - (History)

Gabyi - 2003

Die Ostertüte


Von ihrer Taufe gab es kein einziges Foto.
Nicht ein einziges Bild, gar nichts von diesem Tag fand sie in der Pralinenschachtel, die ihre Eltern ihr eines Tages ausgehändigt hatten. Man könnte fast glauben, sie käme aus einer Heiden- oder Atheistenfamilie.

"Wir haben alle deine Kinderfotos in diesem Karton gesammelt",
sagten sie voller Stolz an einem Weihnachtstag zu ihr, als die Familie mal wieder zusammentraf. Ihre beiden Brüder bekamen jeder ein eigenes Fotoalbum geschenkt, in rotem und braunem Schweinsleder eingebunden.

Doch auch von ihrer Konfirmation existierte kein einziges Bild, ebenso wenig von ihrer Abiturfeier. Aber das Bemerkenswerteste war: sie fand kein Schultüten-Foto von ihrer Einschulung in die Grundschule, die früher noch Volksschule hieß. Weit und breit war keines vorhanden. Vergeblich hielt sie Ausschau danach. Gar nichts von diesem Tag existierte, während in den Alben ihrer Brüder zu jedem einzelnen der genannten Tage eine Fotografie vorhanden war. Außer natürlich vom Abitur, denn das besaßen die beiden nicht.

Außenstehende könnten jetzt leicht den Eindruck gewinnen, dass es sie vielleicht gar nicht wirklich gab. Lebte sie überhaupt ? Doch sie erinnerte sich eigentlich recht detailliert an die zurückliegenden Feste. Zum Beispiel an ihre Einsegnung, zu der fast keine Verwandten und Gäste kamen, weil ihre Mutter sich mit ihren Geschwistern wegen einer Erbschaftsangelegenheit zerstritten hatte.
"Die mögen dich eben nicht so gern !" hieß es dazu lapidar.
Und dass es nur Gemüsesuppe mit Klößchen zum Fest gab, sogenannte "Frische Suppe", daran erinnerte sie sich auch noch sehr genau. Zur Konfirmation des kleinen Bruders reichte man hingegen Rehrücken mit Pfifferlingen und Preißelbeeren. Und natürlich erinnerte sie sich auch ganz genau daran, dass ihr Vater Fotos gemacht hatte.
Ihr Vater war ein passionierter Hobby-Fotograf mit vielen Fotoapparaten und der Tendenz zum Profi. Manchmal lieh er sich sogar eine Entwicklungs- und Vergrößerungsausstattung aus der befreundeten Drogerie aus. Doch oft, wenn es eine wichtige Familienfeier gab, versagten die Blitzbirnen ihren Dienst. Oder die Batterie seines Belichtungsmessers gab ihren Geist auf oder der Film erwies sich nach dem Abholen als fehlbelichtet. Und lieber machte er auch Fotos von Segelschiffen in allen Variationen.

Nur das mit dem fehlenden Schultütenfoto, das machte ihr zu schaffen. Denn sie brauchte das Bild sozusagen als Beweisfoto. Endlich ein sichtbarer Beweis für eine erlittene Schmach ihrer Kindheit. Doch das konnte sie jetzt wohl vergessen.

Eigentlich wollte sie ja nur das Bild der Schultüte 1:1 vor Augen haben. Ihre traurige Figur, die sie dazu machte, war ihr gleichgültig. Damals sagte man noch "Zuckertüte" oder "Ostertüte", denn die Schuljahre begannen noch zur Osterzeit. Nur ungern denkt sie heute an das beklemmende Gefühl zurück, als die Lehrerin sie von der Mutter trennte und mit 30 wildfremden Mädchen in einen muffigen Raum steckte. Lieber erinnert sie sich an die schreiende Ungerechtigkeit, die mit der Schultüte zusammenhing.

Denn die Schultüte, sie war stumpf. Und das in zweifacher Weise.
Nicht spitz wie normale Schultüten aussehen, nein, unten an der Spitze stumpf und abgebrochen. Das muss man sich einmal vorstellen. Dazu nicht glänzend, sondern von einem stumpfen, matten Glanz. Denn es war die gebrauchte, benutzte Schultüte ihres älteren Bruders. Geerbt sozusagen und vielleicht sogar noch aus dem Kriege. Der große Bruder ging meist nachlässig und unordentlich mit seinen ihm anvertrauten Gegenständen um, wenn sie ihn nicht interessierten. Doch sie, sie legte Wert auf ihre Schultüte. Sie sollte schön, perfekt und unversehrt aussehen und heil und ganz sein.

Es existierte also kein Schultütenfoto. Da sie ja offensichtlich lebte, war sie vielleicht doch gar nicht eingeschult worden ? Dann stimmte es vielleicht auch gar nicht, dass sie bei der Einschulung ihres kleinen Bruders bei der Mutter darauf pochte, von ihrem Taschengeld ein schönes, großes und vor allem neues Exemplar bei Kloppenburg zu kaufen ? Weil der kleine Bruder schon wieder dieses alte, marode Ding bekommen sollte. Und es stimmte vielleicht dann auch nicht, dass ihr Sohn schon vor der Einschulung drei prächtige riesige Schultüten besaß ?

Nur eines, das wusste sie ganz sicher. Dass in der heutigen Zeit jedes Kind aus sozial schwachen Familien vom Sozialamt eine n e u e Schultüte bezahlt bekommt. Das konnte man oft genug im Fernsehen sehen, zum Beispiel bei SPIEGEL-TV. Und die Sozialhilfeempfänger können dann auf ihren Videorecordern die Einschulung ihres Kindes samt Schultüte begutachten.

Doch sie konnte sich nicht mehr als ABC-Schütze begutachten, absolut keine Chance.
Und falls sie doch gar nicht lebte ? Aber wer war dann das Mädchen auf den anderen Bildern ? Ihre unbekannte Zwillingsschwester vielleicht ?

(C) 2003





Über das Gedicht

Veröffentlicht: 20.07.2015
Kategorie: Kurzgeschichten

Link zum Gedicht

Das Reimlexikon der Lyrikecke

Träumst Du davon selbst eigene Gedichte, Song-Texte oder Raps zu verfassen, aber Dir fallen keine passenden Reime ein?

Das Reimlexikon der Lyrikecke hilft Dir beim Reimen - schnell und kostenlos.


Theorie des Schreibens


Lyrikecke bei Facebook
Lyrikecke bei Facebook