Schall und Rauch - Berliner StattPläne (Borsighalle)

Heute in den Hallen am Borsigturm.
Fauchen, Stampfen, Schall der Dampflokomotive. Tosender Lärm. Infraschall. Wie ein fernes Pochen und Rauschen des Blutes in der Gehörmuschel, wie eine Muschel am Ohr, die das Meeresrauschen ferner Ozeane gespeichert hat, den Schall simuliert. Die Luftsäule schwingt im Innenohr durch die Ohrmuschel in Resonanz mit dem Helixgehäuse einer rosa schimmernden Muschel, die eigentlich eine Meeresschnecke ist. Eine dumpfe Schwingung, Schwebung, tost in der Halle, jetzt eine Einkaufspassage inklusive Dienstleistungs- und Freizeitcenter samt Multiplexkino.
Sie sitzen in dem italienischen Eiscafé, in der Zwischenetage, einige Stufen tiefer, auf türkis und pinkfarbenen Samtsitzen. Kaum wahrnehmbar schwankt der Boden unter den Füßen. Die Halle schwingt mit im Rhythmus der Gezeiten. Industriezeitalter, Dienstleistungszeitalter, was kommt dann ?
Seit dem Ende des 19.Jahrhunderts wurden hier bis 1931 in der späthistoristischen Industriearchitektur der Borsighallen noch Dampflokomotiven und Dampfmaschinen hergestellt. Heute sitzt man in namhaften Coffeeshops oder beim Italiener und bespricht die innovativen Projekte. IT-Branche, Werbebranche, Planungssoftware, Hotline...
"Einen Capuccino, bitte."
"Mit Milch oder Sahne?"
"Milch"
"Prego"
Die Espressomaschine faucht und brodelt und zischt, ohrenbetäubend durch Mark und Bein, Tinnitus. Im expressionistischen Stil wurde der Borsigturm erbaut, in märkischer Backsteingotik die Borsigstadt Borsigwalde. Alles im 19.Jahrhundert, ebenso die historischen Hallen der Dampflokomotiven und das backsteinerne Tor.
Im italienischen Eiscafé werden frische Waffeln gebacken und mit Sahne serviert.
Die neue Espressomaschine der Firma ist noch nicht ausgepackt, keine Zeit. Beim ElektroMedienMarkt wurden drei Palms einer japanischen Firma gekauft und ein neuer Virenscanner. Der alte ist morgen abgelaufen. Eine Lilie im Blumenladen für den alkoholkranken Freund zum Geburtstag - Fehlanzeige. Macht nix, war ohnehin nur eine Schnapsidee.
Lieber feiern sie das neu errungene ® auf dem Firmennamen, das triumphale Ende einer Markenschutz Klage vor dem Patentamt. Juchuuh ! Nun haben sie den uneingeschränkten Anspruch auf das Firmenlogo und auch den Namen der Domain, www..........de... Whow...
Es ist alles immer noch fast genauso wie früher, Schall und Rauch.
Und auch an den Kreditwilligkeit der Banken hat sich nicht viel geändert. Schon damals wurde August Borsig von den Banken als nicht kreditwürdig eingestuft, als er seine Lokomotivfabrik bauen wollte. Heute gibt es dafür Basel II*.
Wie man sehen kann, hat es der alte Borsig aber mit Eigeninitiative trotzdem geschafft. In den Hallen ließ er innerhalb von dreißig Jahren tausende von Lokomotiven fertigen, die in alle Welt verschifft wurden. Bis 1930 stellten die Borsigwerke insgesamt 14.000 Dampfrösser her.
Durch die rekonstruierten Glasdachflächen der Halle fällt flirrendes Sonnenlicht, rieselt wie Goldstaub an den silbernen Stahlkonstruktionen vorbei, hinab auf das hektische Treiben. Eine türkische Großfamilie wälzt sich laut schreiend, gestikulierend über den hallenden Gang auf ihrem Weg von McBurger's, drei Buggys mindestens. Und mindestens genau so viele Burger. Chicken.
Ein inspirierender Ort hier, in der Grauzone Gegenwart, zwischen Tradition und HighTech. Geschichte flirtet ungehindert mit Zukunftsvisionen.
Und in der Firma wartet schon der innovative Negerkuss, ein GeschmacksProbeexemplar, auf sie. Political Correctness hin und her, kann warten...
Worauf eigentlich ?
Vielleicht auf ein Foto, das eine nationalsozialistische Großversammlung zeigt, wo eine ganze Belegschaft in den Werkshallen der Rheinmetall-B***ig-AG in Tegel geschlossen hinter dem Führer Adolph Hitler steht. Oder auf die traurige Geschichte der Zwangsarbeiter, die im 2.Weltkrieg in den Hallen Torpedorohre herstellen mussten. Oder ...



* Basel II: Führt zu Maßnahme der Banken, eine rigide Einstufung der Kunden-Kreditwürdigkeit vorzunehmen.