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Flucht

Inge Wrobel - 26.11.2005

Flucht

Da ist diese Hecke. Sie erscheint mir sehr hoch. Hoch und düster, aber sie teilt nicht den Himmel. Obwohl dieser auch düster ist. Es gibt drei Abstufungen. Am hellsten ist der düstere Himmel. Dann das Feld, das vor uns liegt. Ich kann gerade noch erkennen, daß es ein Stoppelfeld ist. Und dann auf der linken Seite – wie eine Wand – die Hecke. Sie ist fast schwarz.
Meine Mutter beugt sich zu mir runter und flüstert mit mir: „Wir gehen jetzt über dieses Feld bis ans Ende der Hecke. Wir müssen so dicht wie möglich an der Hecke bleiben. Du darfst keinen Mucks von dir geben, sonst werden wir erschossen.“ Ich spüre, wie wichtig das ist, daß ich ganz still bin, keine Geräusche mache.
Mit der Ernsthaftigkeit eines dreijährigen Kindes gehe ich an der Hand meiner Mutter, geduckt, obwohl ich so klein bin, an der Hecke entlang über das Feld. Um uns herum weitere huschende Gestalten, alle stumm.
Von irgendwo gleitet ein Lichtkegel über das Feld. Als das Licht in unsere Nähe kommt, schließe ich die Augen.
Es ist kalt, und die Hecke scheint endlos. Aber ich bin mir der Besonderheit der Situation bewusst, sage kein Wort, achte darauf, geräuschlos zu gehen.
Am Ende der Hecke sind wir „drüben“. Der Unterschied besteht darin, daß jetzt die huschenden Gestalten erkennbare Formen annehmen. Ich hätte nicht gedacht, daß es so viele sind.
Es wird gesprochen. Es sind hauptsächlich Frauen und Kinder. Auch die, die nicht miteinander verwandt sind, sprechen miteinander, duzen sich. Ich spüre eine Entspannung, Erleichterung in den Stimmen, auch der Stimme meiner Mutter.
Jetzt bilden sich Gruppen. Einige haben Leiterwagen dabei. Ich frage mich, wie sie die, ohne Geräusche zu verursachen, über das stoppelige Feld befördern konnten. Oder waren die Wagen schon dort drüben, und haben auf die Menschen gewartet?
Ich darf mich auf einen Wagen hintendrauf setzen. Mein Bündel mit Sachen, das ich die ganze Zeit trug, nehme ich auf den Schoß. Auch das Bündel meiner Mutter, das entsprechend größer ist. Mehr Gepäck hatten wir nicht.
Wie eine Karawane bewegt sich die Menschenmasse nach links. Links bedeutete Westen, aber das wusste ich damals mit drei Jahren noch nicht.

© Inge Wrobel 26.11.2005





Über das Gedicht

Veröffentlicht: 03.02.2006
Kategorie: Tagebuch

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