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Verletzungen und Scham

Inge Wrobel - 28.11.2014

Verletzungen und Scham


Das Kind hatte sich verletzt. Es war an einem Baugerüst herumgeklettert und abgerutscht. Ein Nagel hatte sich in die Innenseite des Oberschenkels gebohrt und eine tiefe klaffende und stark blutende Wunde gerissen.

Weinend lief das Kind über die Straße in die elterliche Wohnung. Die Mutter rief einen Arzt an, der auch kam, um die Wunde zu versorgen. Der Doktor wollte dem Kind eine Spritze geben. Heute weiß ich, dass es wohl eine Tetanusspritze war.

Das Kind weigerte sich standhaft, den Rücken und Po für die Spritze zu entblößen – es schrie wie am Spieß und wehrte sich, ließ sich weder beruhigen, noch festhalten. Schließlich wurde auf die Spritze verzichtet. Wie das Problem der Wundbehandlung gelöst wurde, weiß ich nicht mehr. Die Narbe gibt es immer noch.

Ich hatte keine Angst vor der Spritze oder dem Doktor. Es war die Scham, die mich schreien ließ. Hätte der Arzt meinen Rücken und Po gesehen, wären ihm die blutigen Striemen aufgefallen, die meinen Rücken und Po bedeckten. Hätte er meine Mutter auf die Spuren der Misshandlungen angesprochen? Wie hätte sie reagiert?

Warum, frage ich mich bis heute, schämen sich Kinder dafür, dass sie von ihren Eltern misshandelt werden?


Inge Wrobel © 2014-11-28





Über das Gedicht

Veröffentlicht: 28.11.2014
Kategorie: Familie

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