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Das Weihnachtsgeschenk

Inge Wrobel - 21.11.2015

Das Weihnachtsgeschenk

Anna wog das Messer in ihrer Hand wie ein Küchenmeister, der die Qualität dieses Werkzeugs prüft, um zu entscheiden, ob es ihm gefällt oder nicht.
Zwar war Anna keine ausgebildete Köchin, verfügte aber über ausgezeichnete Kochkünste. Weil ihr Mann als Feinschmecker das zu würdigen wusste, hatte er seiner Frau in den letzten Jahren zu Weihnachten hochwertiges Küchengerät gekauft, damit sie eine gute Ausstattung hatte, wenn sie an den Wochenenden für sie beide kochte.
Während der Woche wurde Friedrich von der Kantine seiner Firma verwöhnt. Die Kantinenchefin kümmerte sich sogar eigenhändig nach Feierabend um den Kollegen aus der Buchhaltung, der sonst alleine in seiner kleinen Firmenwohnung gesessen und sich aus Gründen der Bequemlichkeit von Fast Food oder Konservengerichten ernährt hätte.
Bei solcher Betreuung war es sinnvoll, nicht täglich zu pendeln. Man hatte sich mit der Wochenendehe arrangiert – und Friedrichs Leibesumfang nahm bei solch guter Rundumpflege langsam aber stetig zu.

Anna betrachtete das große Tranchiermesser in ihrer Hand nachdenklich. „Auch gut geeignet zum Gattenmord!“ meinte sie lachend.
„Mach keine Witze!“ erwiderte Friedrich erschrocken und griff nach dem Messer. Sein Schreck entsprang einem allgemeinen Reflex.
Selbstverständlich hatte er keine Angst, sein „Häs’chen“ könne ihm etwas zuleide tun. Seine Frau war ja so sanft in ihrem Wesen – und mit Sicherheit ahnungslos, was sein Doppelleben betraf.

Für den heutigen Freitag hatte er Anna in die Stadt bestellt, weil er klären wollte, ob sie mit dem Messer zufrieden wäre. Sie war mit der Stadtbahn gekommen und die paar Schritte zum Park gelaufen, wo sie sich bei einer bestimmten Parkbank treffen wollten. Anna sollte das Messer begutachten. Falls es ihr nicht gefiel, könnten die Beiden es gleich zusammen im Geschäft umtauschen.

Anna nahm das Blinken der scharfen Klinge wahr und konnte den Blick nicht abwenden. Ja, das war beeindruckend, ein gutes Stück, das erkannte sie.

Aber warum? Warum schenkte ihr Mann ihr immer wieder solche Sachen zu Weihnachten? Als er am Telefon andeutend von etwas Glänzendem sprach, hoffte sie auf ein Schmuckstück. Etwas, das andere Ehefrauen zu Weihnachten bekamen. Und nun das!
Wütend fragte sie sich, ob er seiner Geliebten wohl auch Kochgerät schenkte. Nein, sicher nicht, denn die hatte ihre Rivalin bestimmt als Berufsausstattung schon im Schrank. Der Dame konnte man damit nicht imponieren. Sie bekam von Friedrich wahrscheinlich Glitzerndes, das in kleinen samtgepolsterten Geschenkkästchen überreicht wird. So etwas, das sich Anna gewünscht hätte – wäre sie je gefragt worden.

Bei diesem Gedanken fiel Annas Blick wieder auf das glänzende polierte Metall in Friedrichs Hand. Mit einer raschen Bewegung ergriff sie das Messer, und die blitzende Schneide durchtrennte die Schlagader des untreuen Ehemannes.

Nun war es das Blut, das Anna faszinierte. Wie gebannt schaute sie auf das rote Spritzen. Dann schlich sich die Erkenntnis in ihr Bewusstsein, dass sie ihren Mann getötet hatte. Anna warf das Messer zur Seite und floh in Richtung Haltestelle. Wie in Trance bewegte sie sich und harrte der Dinge, die auf sie zukommen würden.

Die Polizei kam zu dem Schluss, dass Friedrich von einem Unbekannten überfallen worden war. Zu einem Raub war es jedoch offensichtlich nicht gekommen, denn Brieftasche, Handy und Armbanduhr befanden sich noch beim Opfer.
Das nicht weit der Leiche liegende Messer zeigte keine erkennbaren Fingerabdrücke. Nicht verwunderlich, da um diese kalte Jahreszeit jeder, der sich im Freien aufhielt, Handschuhe trug. Auch gab es keine Augenzeugen, die erhellend zur Aufklärung des Tathergangs beitragen konnten. Man ging von einem Unbekannten aus, weil im Umfeld des Opfers niemand zu finden war, der Grund gehabt hätte, Friedrich hier aufzulauern und zu töten.
Die Witwe konnte als Täterin ausgeschlossen werden, da sie kein Motiv hatte – und ein Mord wäre sicher leichter zuhause auszuführen gewesen.

Anna stand zuerst wie vom Donner gerührt, als die Polizisten von der außerehelichen Beziehung ihres Mannes sprachen, der man schnell auf die Spur gekommen war. Dann glitt sie ohnmächtig zu Boden. „Die Ärmste – das war einfach zuviel für sie!“ meinte der ermittelnde Beamte, der ihr die Botschaft überbracht hatte. „Kein Wunder“, antwortete der Kollege, „der Tod des Mannes und dann noch der Betrug. Sie ist so eine zarte Person – hoffentlich verkraftet sie das alles!“





Über das Gedicht

Veröffentlicht: 30.12.2015
Kategorie: Feste & Feiertage

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